Damit die Eltern mal durchatmen können

KINDERHOSPIZ Jörn Wittke ist Familienbegleiter im ambulanten Kinderhospizdienst und stößt oft auf Unverständnis, wenn er von seinem Ehrenamt erzählt. Doch ihm tut die Arbeit gut

■ Die 17. Berliner Hospizwoche findet vom 10. bis 16. Oktober unter dem Motto „Leben bis zuletzt“ statt. Zahlreiche Veranstaltungen wie „Tage der offenen Tür“ mit Gesprächsrunden und Führungen in verschiedenen Hospizeinrichtungen sollen die Hospizidee bekannt machen und damit zu einer Bewusstseinsänderung in der Gesellschaft beitragen, dass Sterben ein Teil des Lebens ist. Information: www.hospizwoche.de

■ Der nächste Ausbildungszyklus für angehende Familienbegleiter beginnt im nächsten Jahr; Anmeldungen werden ab November 2014 entgegengenommen. Mehr Information: www.bjoern-schulz-stiftung.de/ausbildung.html

VON CANDIDA SPLETT

Immer montags steht Jörn Wittke mit Özlem Bulut* auf dem Bürgersteig der Johannisthaler Chaussee. Gemeinsam warten sie auf deren zehnjährigen Sohn Alperen*, der mit dem Behindertentransport aus der Schule kommt. „Man sieht ihm die Freude an, wenn er mich sieht“, erzählt Wittke. „Dann lächelt er und versucht, mir die Hand zu geben.“ Das fällt Alperen schwer; er leidet unter der Muskeldystrophie Duchenne, einer Erbkrankheit, die immer tödlich endet. Die Kraft seiner Muskeln lässt stetig nach. Seit er acht ist, sitzt er im Rollstuhl. Auch Herz und Lunge verlieren zunehmend an Kraft. Nachts muss er alle zwei Stunden umgebettet werden, damit er sich nicht wundliegt.

Wittke ist einer von 137 ehrenamtlichen Familienbegleitern des ambulanten Hospizdienstes der Björn-Schulz-Stiftung in Berlin. Der ambulante Dienst ist ein Baustein im Angebot der Stiftung, die Familien mit unheilbar kranken Kindern betreut. Daneben gibt es das stationäre Hospiz und die Nachsorge bei Familien, in denen ein Kind gestorben ist.

Im Unterschied zur Hospizarbeit mit Erwachsenen steht die akute Sterbebegleitung nicht im Mittelpunkt der Arbeit. Die Familien werden oft über einen langen Zeitraum betreut. Idealerweise ab dem Zeitpunkt der Diagnose – oft bis Jahre nach dem Tod des Kindes. „Die ehrenamtlichen Familienbegleiter machen, was immer die Familien entlastet. Nur die Krankenpflege übernehmen sie nicht“, sagt Barbara Beuth, hauptamtliche Koordinatorin des ambulanten Dienstes. „Viele Eltern wünschen sich, dass das kranke Kind betreut wird, damit sie mal durchatmen können. Andere möchten, dass sich jemand um ein gesundes Geschwisterkind kümmert, das immer zu kurz kommt, oder im Haushalt mit anpackt. Oft sind die Familienbegleiter wichtige Gesprächspartner für die Eltern, weil sie – anders als Freunde und Verwandte – nicht ausweichen, wenn es um Krankheit und Tod geht.“

Als Jörn Wittke 2011 das erste Mal Familie Bulut besuchte, war Barbara Beuth dabei. Sie besprachen mit Özlem und ihrem Mann, was sie am meisten brauchten. Wittke formuliert das heute so: „Ich bespaße den kranken Jungen, damit der Rest der Familie mal etwas anderes tun kann.“ Die Mutter verbringt dann Zeit mit den gesunden Töchtern oder trifft sich mit Freundinnen.

Zur Betreuung des Jungen sind inzwischen weitere Aufgaben hinzugekommen. Wittke ist Anwalt und setzt sich mit der Krankenkasse auseinander, etwa über die Pflegestufeneinstufung oder die Finanzierung eines passenden Rollstuhls. Manchmal vermittelt er zwischen Schultherapeuten oder Arzt und Familie. Wenn Wittke kommt, entscheidet Alperen, was in den nächsten drei Stunden gemacht wird. Das ist dem Begleiter wichtig: er will nicht die Richtung vorgeben, sondern „nebenherlaufen“. Manchmal spielen sie Lego, gehen im Britzer Garten Eis essen oder bummeln. Nicht immer weiß Wittke, wie er sich verhalten soll. Einmal, sie waren im Schwimmbad, sagte Alperen unvermittelt „Tod“, mehrfach hintereinander. Mehr nicht. Der Familienbegleiter war verunsichert. Familie Bulut spricht nicht über Krankheit und Tod. Darf er dann mit Alperen darüber sprechen? Und darf er mit dem Jungen ein solches Gespräch beginnen, wenn der es nicht von sich aus tut?

Seine Fragen konnte er in der nächsten Supervisionsrunde besprechen, dem Ort, an dem die Ehrenamtlichen sich über schwierige Situationen austauschen und professionellen Rat bekommen. Einmal im Monat wird so ein Termin angeboten. In der Runde kamen sie zu dem Schluss, dass er mit dem Vater des Jungen über die Situation sprechen sollte. Der sagte: „Wenn das noch mal vorkommt, dann sprich mit Alperen, wie du mit deinem eigenen Sohn sprechen würdest.“ Das wird Wittke tun. Er wird das Thema Tod ansprechen.

Männer dringend gesucht

Ursprünglich hatte Wittke die Idee, mit den Kindern im stationären Hospiz der Björn-Schulz-Stiftung Musik zu machen. 2010 stand sein Ausstieg aus dem Berufsleben an, nur zwei halbe Tage wollte er noch arbeiten. Nun überlegte er, wie er die Zeit anderweitig nutzen könnte. Am Telefon sagte man ihm, dass nicht Musiktherapeuten, sondern Familienbegleiter gesucht würden – vor allem Männer.

Wie oft im sozialen Bereich interessieren sich vor allem Frauen fürs Ehrenamt, bestätigt Barbara Beuth. „Aber Männer werden dringend gebraucht. Jungs aus türkischen Familien dürfen meist nur von Männern betreut werden. Auch für pubertierende Jungs ist es oft schöner, wenn sich ein Mann um sie kümmert.“

Wittke war schnell von der Idee begeistert. Er mag Kinder, hat aber selbst keine. Das könnte sein Vorteil sein, glaubte er, weil er die Situation der kranken Kinder nicht auf sein eigenes Leben projizieren kann. Am liebsten wollte er eine türkische Familie begleiten.

Nicht die akute Sterbebegleitung steht im Mittelpunkt der Arbeit – sondern die Familie

Seine Frau und er waren schon zwanzig Mal in der Türkei, er spricht ein bisschen Türkisch. In einem ersten intensiven Gespräch fragten ihn die Koordinatorinnen der Stiftung, wie er mit eigener Trauer umgeht. Sie interessierte seine Motivation für das Ehrenamt und ob er gut sozial eingebunden sei. Familienbegleiter müssen stabile, belastbare Persönlichkeiten sein. Weil Jörn Wittke so eine Persönlichkeit ist, konnte er die 130-stündige Ausbildung beginnen.

„Die Ausbildung ist wie ein Mosaik“, erklärt Wittke, „bei dem man das große Ganze erst dann erkennt, wenn alle Teile beisammen sind.“ Da geht es etwa um eigene Verlusterfahrungen oder um die Frage, wie man Distanz wahrt, ohne distanziert zu wirken. Auch Kindertrauer ist ein Thema und wie man mit Kindern über den Tod spricht. Für Wittke war es immer dann am spannendsten, wenn die Praxis greifbar wurde: als etwa ein Familienbegleiter kam und berichtete, wie er unvorbereitet mit einem schweren Krampfanfall des betreuten Kindes konfrontiert war und die Feuerwehr rufen musste. Oder ein Vater, der von den Facetten seiner Trauer nach dem Tod seines Sohnes erzählte.

Jörn Wittke ist jetzt seit zweieinhalb Jahren bei Familie Bulut. Freunde fragen ihn manchmal, warum er sich so was antut. „Weil ich viel mehr zurückbekomme, als ich gebe“, antwortet er. Alperen blüht auf, wenn er kommt. Die Familie ist dankbar. „Wenn ich ihr Haus am Montagabend verlasse, dann geht es mir besser als vor dem Besuch.“

*Name geändert