Feines Spiel

Alex Ferguson führt Manchester – vor der Saison nur Außenseiter – zum neunten Mal zur Meisterschaft

LONDON taz ■ Alex Ferguson hatte, wie er später strahlend erzählte, erst aus Angst „das Herz im Mund“ und danach die Hosen voll. Der 65-Jährige ließ sich nach der Übertragung von Chelseas 1:1 beim FC Arsenal, das sieben Punkte Vorsprung vor den Westlondonern und somit die Meisterschaft für Manchester United bedeutete, am Sonntag von der eigenen Freude überwältigen und goss sich live im Fernsehen eine halbe Champagnerflasche übers Hosenbein. Im Grund hätte man von Sir Alex ein wenig mehr Souveränität beim Umgang mit seinem nunmehr 9. Titelgewinn in 21 Spielzeiten erwartet. Aber der Meisterpokal wurde ja im Old Trafford zuletzt 2003 gesichtet, dem Jahr vor Roman Abramowitsch. „Alle Meisterschaften waren schön“, sagte Ferguson, „aber wenn man bedenkt, wie Chelsea die vergangenen zwei Jahre dominiert hat, dann ist das schon ein besonderer Titel.“ Das von einer feindlichen Übernahme und einer Milliarde Euro Schulden gebeutelte United mit seinem vom Rücktritt zurückgetretenen Trainer hatte den Experten vor der Saison als der Top-Favorit gegolten – für den vierten Platz hinter Chelsea, Liverpool und Arsenal.

Im Sommer hatte Ferguson Ruud van Nistelrooy ziehen lassen und mit Mittelfeldspieler Michael Carrick (Tottenham Hotspur, 27 Millionen Euro) nur eine einzige Verstärkung eingekauft. Bayern München gab Owen Hargreaves trotz wochenlangen Bemühungen nicht ab, so dass im defensiven Mittelfeld weiter das von Roy Keane hinterlassene Loch wie eine große Wunde klaffte. Vorne hatten Paul Scholes (32) und Ryan Giggs (33) schon seit Jahren keine außerordentlichen Leistungen gebracht. Zudem musste man sich Sorgen um Cristiano Ronaldo machen, der nur widerwillig von der WM zurückgekehrt war und der Öffentlichkeit nach seiner Intervention vor Wayne Rooneys Platzverweis im Viertelfinale als Staatsfeind Nummer eins galt. Während die Rivalen kräftig aufrüsteten, vertraute Ferguson seinem in der Breite etwas dünnen und in der Spitze nicht besonders spitzen Kader – und er wusste es mal wieder besser: Seine Red Devils gewannen die ersten vier Premier-League-Spiele und gaben die Spitze seit Oktober nicht mehr ab.

Als Chelseas einziger ernstzunehmender Konkurrent hatte das früher übermächtige, verhasste United zum ersten Mal die neutralen Beobachter auf seiner Seite, und auch ihr einfallsreicher, fließender Angriffsfußball machte mehr Freude als der brutale Gewaltmarsch der Blauen: 83 Tore in 36 Spielen, die Tordifferenz beträgt atemberaubende +57.

Chelsea stand nach Michael Ballacks Wechsel an die Themse meist mit vier zentralen Mittelfeldspielern auf dem Platz und versuchte, die Gegner mit kollektivem Kampf zu erdrücken; United setzte auf die individuelle Brillanz von Rooney und Ronaldo und hatte mit dem Serben Nemanja Vidic den unterschätztesten Innenverteidiger Europas als Faustpfand. Überraschend war es trotzdem, wie entschieden Fergusons Mannschaft in der harten, rauen Premier League ihr feines Spiel durchdrücken konnte – ohne einen echten Ballwinner, einen kompromisslosen Grätscher im defensiven Mittelfeld, ist in England zuvor noch nie jemand Meister geworden. Ausgerechnet Ferguson United, die Elf des letzten britischen Spitzentrainers in der Liga, verzückte die Insel mit kontinentaler Spielkultur und schnellem, effizientem Direktspiel.

Chelseas José Mourinho wollte sich am Sonntag erst gar nicht auf einen ästhetischen Vergleich mit den Gewinnern einlassen. Er wusste, dass er in dieser Beziehung nur ein zweites Mal verlieren konnte. „United die beste Mannschaft? Ich weiß es nicht“, sagte er, „aber sie haben die meisten Punkte und das reicht. Ich bin da pragmatisch. Meine Gratulation.“

Mourinho verließ das Emirates-Stadion mit einem Lob für seine auch in Unterzahl bewundernswert kämpfenden „Helden“ und einer schnippischen Bemerkung; „Heute hat man gesehen, warum einige Spieler in meiner Kabine Erfolg haben und einige nicht.“ Damit waren wohl die verletzten Andreij Schewtschenko und Michael Ballack gemeint. Mourinho hat die Stars als die Schuldigen ausgemacht. RAPHAEL HONIGSTEIN