I like Birds / Birds on a Wire

Man muss das Haus gar nicht verlassen, um Parallelwelten zu erleben – wie Heidi Klum DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

Es gibt immer mehr untätige Menschen, die auf der Bühne der Welt keine Rolle mehr finden

Im nächsten Leben möchte ich Kohlmeisendame sein. Nicht nur, weil Kohlmeisen offenbar Zeitung lesen. Darauf könnte ich zwar zur Not verzichten, aber meiner im letzten Schlagloch geäußerten Bitte, das einzig mir näher bekannte Kohlmeisenpaar möchte sich doch melden, wurde jedenfalls prompt nachgekommen, und seitdem finden sich die beiden wieder mehrmals täglich ein. Nicht nur deshalb also, sondern vor allem, weil Kohlmeisenmädchen ein Leben führen, um das sie jeder französische Gott beneiden würde.

Ich jedenfalls beneide sie. Wenn die beiden morgens in mein Arbeitszimmer geflogen kommen, fragen sie zunächst mit kurzem Schnarren, ob jemand daheim ist und sofort eine Walnuss aufmachen kann. Die Anwesenheit von zwei Wesen, die nahezu unhörbar und dennoch ununterbrochen miteinander kommunizieren, ist körperlich zu spüren. Sie scheinen einander immer bewusst, sirren, wispern und knistern unentwegt wie elektrische Leitungen voller wichtiger Botschaften. Bird on a Wire bekommt auf einmal eine gänzlich neue Bedeutung.

Ich wäre gerne Kohlmeisendame, weil ich mir dann mit meinem Mann was zu erzählen hätte, er ein Haus nach meinen Wünschen einrichtet und wir zusammen fliegen könnten. Wenn das Pärchen bei mir mit allem fertig ist, piepst er kurz auf und gemeinsam huschen sie davon, in das undurchdringliche Grün der Linden und Pappeln vor dem Haus. Ab in eine bessere Welt. Vielleicht ist sie gar nicht besser, aber auf jeden Fall eine andere. Ganz fern und doch so nah.

Man braucht also noch nicht mal aus dem Haus zu gehen, um Parallelwelten zu erfahren. Die zweite Erkenntnis über andere Realitäten überfiel mich vor ein paar Tagen bei einem Kaffeetrinken im Country-Style. Lauter gestandene, feministische Damen, die aufs Land gezogen waren, äußerten sich besorgt über die Schariarisierung unserer Gesellschaft und die Zunahme von Frauen mit Kopftüchern. Zwei Frauen, die in verschiedenen Berliner Stadtteilen mit gemischt nationaler Bevölkerung leben, zeigten sich verwundert. Dass es so schlimm auf dem Land zugeht, wussten wir gar nicht. Auf der Fahrt über die Dörfer hatten wir nicht mal den allerwinzigsten Muslim zu Gesicht bekommen, allerdings kamen uns einmal tatsächlich zwei Frauen mit Kittelschürze und Kopftuch entgegen. Aber Frauen mit Kopftüchern stören uns gemeinhin genauso wenig wie Männer mit Ohrring. Wenn sie fliegen könnten, würde ich ihnen auch sofort eine Walnuss knacken. Ansonsten stört mich die Parallelwelt der Alkis, die täglich auf dem Platz rumlungern und in die Büsche am Spielplatz pinkeln, mehr als jede vermeintliche Scharia. Aber interessant: Man muss die Gefahr gar nicht unbedingt in der Nähe haben, um sie zu fürchten.

Tags darauf musste ich einen Koffer kaufen. Als Westberliner geht man dafür natürlich ins KaDeWe. Vorbei an den gähnend leeren Boxen von Chanel und Dior – wo sind plötzlich nur all die blonden jungen Russinnen und lederhäutig gebräunten alten deutschen Damen mit dem disziplinierten Essverhalten geblieben, die man hier früher mit stoischem Blick ihre Trophäen einsammeln sah? Dann Gucchi – aber hallo! Eine ganze Busladung asiatischer Mädchen. Manche mit so hübschen Pagenfrisuren wie meine Kohlmeisen. Aber sie schwirrten so aufgeregt schnatternd und kopflos zwischen der aufgereihten teuren Hässlichkeit herum wie eine Neuköllner Spatzengang um runtergefallene Pommes. Woher haben so junge Mädchen so viel Geld? Und schon die dritte Parallelwelt in zwei Tagen.

Die nächste folgte nur ein paar Kilometer weiter auf der Friedrichstraße. Männer mittleren Alters in nur selten gute, aber oft schlecht sitzende Stoffe gekleidet, ziehen straßenkreuzend Trolleys hinter sich her. Sie wirken geschäftig, aber ihre Bewegungen und ihre Mienen sind verräterisch. Da ist eine Irritation im festen Schritt auszumachen, eindeutig eine Zielunsicherheit. Die Gesichtszüge sind nicht mehr im Triumphausdruck festgemeißelt. Hier zuckt es unter dem Auge, da erschlafft ein starker Unterkiefer. Sie glauben nicht mehr hundertprozentig an das, was sie tun. Sie halten die Sache am Laufen, aber sie tun es nur noch, weil sie nicht wissen, was sie sonst tun sollen. Darin liegt bestimmt eine Chance, aber es ist auch gefährlich.

In den Notizen von Ryszard Kapuscinski findet man aus dem Jahre 1999: „Es gibt heute in der Welt einen gigantischen Überfluss an menschlicher Energie, die nicht freigesetzt, nicht genutzt wird. Obendrein werden diese ungenutzten Vorräte an Energie durch den raschen Fortschritt immer größer. Es gibt immer mehr untätige Menschen, immer mehr Schauspieler, die auf der Bühne der Welt keine Rolle mehr finden.“ Die Männer im Citylook auf der Friedrichstraße wollen noch daran glauben, dass sie eine gute Rolle haben, aber irgendwie scheinen die Seiten im Drehbuch für die nächsten Folgen unbedruckt zu sein. Parallelwelten voller Theatersäle ohne Publikum mit lauter arbeitslosen Schauspielern. Wer schreibt ein neues Stück mit vielen unterschiedlichen Rollen, das alle sehen wollen?

Selbst Heidi Klum versucht gerade, sich neu zu erfinden. Könnte aber sein, dass sie gar nicht gut beraten wird. Nachdem der Weingummi-zwischen-den- Zehen-Sex der ehrgeizigen Provinzschrippe ausgereizt ist, begibt sie sich ohne Umweg geradewegs in die schmallippige Rolle der Domina-Gouvernante. Den ganzen lieben langen Tag leiert sie ihren Zöglingen das Supermodel-Mantra vor „Nur eine kann Germanys Next Top Model werden, nur eine kann auf das Cover der Cosmopolitan kommen“, als wäre das tatsächlich etwas, wofür es sich zu leben lohnt, während ihr übergeschnappter Gehülfe Bruce zwischen Weinkrämpfen darüber, dass er seinen Beruf so liebt, nur noch hysterisch das Wort „sexy“ ausstoßen kann und für die letzten Meter nun auch wieder die Ekelrolle mit Peaman besetzt ist.

Es ist eine Irritation auszumachen. Die Gesichtszüge sind nicht mehr im Triumphausdruck festgemeißelt

Alle Super-Sendungen für Sänger, Tänzer oder Modelle scheinen sich mittlerweile an amerikanischen Soldatenausbildungsmaßnahmen zu orientieren. Echte Full-Metal-Jacket-Shows. Den Stolz des jungen Menschen brechen, ihn beleidigen und öffentlich zur Schau stellen, um ihn im letzten Moment wieder aus der Gülle zu ziehen, sodass nur noch Dankbarkeit und emotionale Abhängigkeit gegenüber dem Schleifer bleiben. Ein geschlechtsloses Etwas, das für eine Bulettenbudenkette Reklame macht. Ein Unternehmen, das Umwelt zerstört, Tiere tötet, Menschen krank macht.

Und die Mädchen bemühen sich mit allen Kräften, das zu erlangen, was ihnen diese dumme Bergisch Gladbacher Pute als „Persönlichkeit“ verkauft. Eine Persönlichkeit, die so unnatürlich läuft, dass es einem schon beim Zugucken wehtut, die alles macht, was andere von ihr verlangen, die sich von einer schurigeln lässt, die nicht richtig Deutsch kann und auf Englisch nur amerikanische Phrasen beherrscht und deren beste Zeiten längst vorbei sind. Diese Persönlichkeit sollte auch ein Kopftuch tragen. Oder vielleicht doch lieber Kohlmeise werden?

Renée Zucker lebt als freie Publizistin in Berlin