Stacheldraht im Zauberwald

Im Jahr 1912 wurde die „Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt“ in Bedburg-Hau für 2.200 Patienten eröffnet. Aktuell stehen 1.100 Betten zur Verfügung. Neben der Allgemeinpsychiatrie, die den Großteil der Klinik ausmacht, gibt es in Bedburg-Hau auch eine forensische Klinik. 460 Menschen sind im größten forensischen Standort Deutschlands untergebracht. Nach den Paragrafen 63 und 64 der Strafgesetzordnung werden hier psychisch kranke und gestörte Straftäter (für unbestimmte Zeit) und Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängige Straftäter (für zwei Jahre) unter hohen Sicherheitsauflagen im so genannten Maßregelvollzug behandelt. In den sechs forensischen Kliniken und Allgemeinpsychiatrien in NRW werden derzeit 2.240 Patienten therapiert. Momentan fehlen im Maßregelvollzug rund 750 Behandlungsplätze. Zur Entlastung plant die NRW-Landesregierung deshalb neben der im letzten Jahr in Dortmund-Aplerbeck eröffneten Einrichtung den Bau von fünf weiteren forensischen Kliniken. In Herne, Essen, Duisburg, Köln und Münster sollen bis zum Jahr 2009 insgesamt 400 neue Plätze entstehen. HOP

AUS BEDBURG-HAU HOLGER PAULER

Keine Zäune und keine Schranken – die Rheinischen Kliniken in Bedburg-Hau sind in eine riesige Parklandschaft eingebettet. Der Baustil des frühen 20. Jahrhundert nötigt die Besucher beinahe zur Erholung: Dichte Baumreihen und weitläufige Wiesen, Weggabelungen führen zu einer Kirche und Villen. Am Kopf des Parks thront das vierstöckige Verwaltungsgebäude über allen. Ein Zauberwald, ein Naherholungsgebiet am platten Niederrhein. Wie geschaffen für eine mehrere hundert Mann und Frau starke Landkommune. Dass in dieser Idylle psychisch kranke und drogenabhängige Straftäter, die wegen Mord, Totschlag oder Vergewaltigung verurteilt wurden, behandelt werden, ist schwer vorstellbar.

Die Häuser der forensischen Klinik stehen am Rande des Geländes. Die alten, gemütlichen beige-rot gemauerten Häuser mit Spitzdach, sind von mehreren Zäunen aus Metall umgeben. Welch ein Kontrast. Ein kleiner, 1,40 Meter hoher Stacheldrahtzaun sichert den Innenraum, wenige Meter davor ist ein zweiter Metallzaun errichtet worden. Er ist drei Meter hoch – und steht ständig unter Strom. Ein unüberwindbares Hindernis für Menschen, es sei denn, sie könnten fliegen. Zwei Entenpärchen, die sich im Zwischenraum ausruhen, haben es vorgemacht. „Am liebsten würden wir dafür sorgen, dass die Zäune irgendwann im Museum landen“, sagt Michael Bay. Der Diplom-Psychologe an den Rheinischen Kliniken betreut 22 Personen, die in einem der separaten Häuser untergebracht sind.

Nach fünf Minuten Fußweg haben wir das forensische Viertel erreicht. „Die Stationen sind überbelegt“, sagt ein Pfleger. Er hat uns an der Verwaltung abgeholt. Seit drei Jahren arbeitet er in Bedburg-Hau. „Als ich ich das erste mal die Zäune gesehen habe, hat es mich fast krank gemacht“, sagt er. Wie sollen sich da erst die Patienten fühlen.

Mit einer Körpergröße von knapp einem Meter achtzig und der schlanken Figur wirkt er nicht wie die Pfleger, die einem aus Hollywood und Co bekannt sind. Während des Gesprächs sucht er den ständigen Blickkontakt zu uns. Aus Gewohnheit: Zur Therapie der „gefährlichen“ Straftäter gehören auch Spaziergänge auf dem Gelände – ohne Mauern und Zäune.

Die rheinischen Kliniken Bedburg-Hau sind der größte Arbeitgeber in der näheren Umgebung. 1.600 Menschen arbeiten hier. Während die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) als Träger der Kliniken in NRW bei den Forensikneubauten in den Ballungszentren mit Protesten der Anwohner kämpfen müssen, haben sich die Niederrheiner damit arrangiert. „Am Wochenende kommen die Familien in den Park, um sich zu erholen, teilweise bringen sie sogar ihre Kameras mit, um die Hochsicherheitstrakte zu fotografieren“, sagt der Pfleger. Neugierde gepaart mit einem gewissen Thrill-Faktor. Sind die vielleicht doch ein bisschen fasziniert von den Erben Hannibals?

Immerhin scheint sich die Gefahr, die von den Tätern ausgeht, in Grenzen zu halten. „Pro Jahr gibt es bis zu 10.000 befristete Freigänge“, sagt der örtliche Fachbereichsleiter Forensik Jack Kreutz. Nennenswerte Zwischenfälle habe es dabei nicht gegeben.

„Natürlich schützen wir die Gesellschaft auch vor den Tätern“, sagt Stefan Galgon vom Rheinischen Institut für Fort- und Weiterbildung in der Psychiatrie in Solingen. Er ist einer von 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die zur 13. forensischen Fachtagung unter dem schrägen Motto „Sex & Drugs & Rock ‚n‘ Roll“ nach Bedburg-Hau gekommen sind. „Wir wollen den Leuten zeigen wie es sich in ‚Gangsta‘s Paradise‘ so lebt“, sagt Michael Bay mit einem Lächeln. Den Ausdruck hat er sich beim Soft-Rapper Coolio geklaut. Er soll, wie auch das Motto der Fachtagung, auf ironische Art die Vorurteile der Bevölkerung kommentieren. „Auch wenn sich manche Patienten hier etwas aufspielen, in ‚Gangsta‘s Paradise‘ leben sie mit Sicherheit nicht“, sagt Bay. Dass sein Musikgeschmack auch einen gewissen Einfluss auf die Titelwahl hat, lässt sich nicht verleugnen. Der Psychologe im Schlabberlook trägt das Baumwoll-Hemd lässig über der Jeans und hebt sich von den Anzugträgern ab. So viel Style muss sein.

Bay hat die dreitägige Tagung, die heute zu Ende geht, vorbereitet – in Kooperation mit der „Zorggroep Intensieve en Forensische Psychiatrie van GGzE“ aus dem niederländischen Eindhoven. Trotz des lockeren Mottos sind die Themen ernst genug.

Der Bielefelder Psychologe Hans J. Markowitsch beschäftigt sich mit der Frage, ob Kriminalität genetisch bedingt ist oder ob die Umwelteinflüsse entscheidend sind. Oder konkret gefragt: „Sind Straftäter verantwortlich für ihre Taten? Und wie sollte die Gesellschaft dann mit ihnen umgehen? Macht die Behandlung straffällig gewordener Menschen einen Sinn oder ist das Sozialromantik?“ – Eine eindimensionale Antwort werde es darauf nicht geben, hatte Markowitsch im Vorfeld bereits angekündigt.

Die Anzahl der Patienten im Maßregelvollzug hat sich in den vergangenen 30 Jahren verfünffacht. „Die Einteilung in therapierbare und nicht-therapierbare Straftäter mutet zum Teil willkürlich an“, meint Helmut Pollähne vom Institut für Kriminalpolitik der Universität Bremen.

Auf den ersten Blick eine verträumte Gartenstadt – auf den zweiten eine Forensik für kranke Straftäter. Heute endet in Bedburg-Hau eine Tagung mit dem genauso verwirrenden Motto: „Sex & Drugs & Rock‘n‘roll“

Eine Einschätzung, die auch Stefan Galgon teilt: 60 Prozent der Verurteilten im Strafvollzug hätten zum Tatzeitpunkt „psychiatrisch relevante Prognosen“. Will heißen, sie hätten eine Therapie verdient. Gerade bei drogenabhängigen Straftätern sei es allerdings schwierig, die Bereitschaft zur Therapie zu wecken – zumal Verteidiger oft mit dem Hinweis auf die Verweildauer, ihren Klienten klar machten, dass der Strafvollzug angenehmer sei, so Galgon. Der Zufluss sei konstant der Abfluss dagegen verstopft. „Wann ein Patient entlassen werden kann, entscheiden letztlich die Gerichte.“

Da der Trend zu immer längeren Klinikaufenthalten geht, geraten die Forensiken an ihre Belastungsgrenze. Das Land NRW hatte noch unter Rot-Grün den Bau sechs neuer Kliniken veranlasst. Doch Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat nun im Rahmen der schwarz-gelben Haushaltssanierung angekündigt, bei der Ausstattung der alten und neuen Forensiken zu sparen.

Ein Problem, das auf der Tagung eine Rolle spielt. „Es gibt keine Kennzahlen, nach denen man eine wirklich relevante Vergleichbarkeit der Kosten festmachen könnte“, sagt , sagt Ralf Wolf, ärztlicher Direktor der Psychiatrie im hessischen Hadamar. So sage ein Vergleich der täglichen Kosten zwischen den Bundesländern und auch den Nationen nicht viel aus – selbst in NRW sind die Kosten von Klinik zu Klinik verschieden. „Man muss auch wissen, wie lange der Patient in Behandlung ist und unter welchen Umständen er entlassen wird“, so Wolf. Durchschnittlich fallen in NRW etwa 200 Euro pro Tag und Patient an, in den Niederlanden sind die Kosten dagegen doppelt bis dreimal so hoch.

Ein teurer Maßregelvollzug sei auf Dauer dennoch billiger, als ein billiger Strafvollzug, sagt Bay. „Die Statistiken sprechen eindeutig für eine psychiatrische Betreuung.“ So liege die kriminelle Rückfallquote in dem Bereich Mord sowie gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge bei behandelten Tätern bei null bis drei Prozent, während es ohne Behandlung 40 bis 70 Prozent seien. Diese niedrigen Rückfallquoten gelten übrigens auch für die Forensik Bedburg-Hau – trotz der paradiesischen und einladenden Umgebung.