Die Ratlosigkeit der CDU

Regieren muss gelernt sein. Das erfahren derzeit die Grünen schmerzlich. Doch auch Opposition ist keine leichte Aufgabe. Vor allem, wenn man wie die CDU fast 60 Jahre den Platz in der Villa Reitzenstein gepachtet hatte und es so schien, als ob das für immer und ewig so sei. Impressionen von der CDU-Basis im Land

von Anna Hunger

Wiebke und Lothar heißen die zwei größten Katastrophen, die den Wald hinter Steinheim an der Murr in den vergangenen Jahrzehnten heimgesucht haben. Und massenweise Borkenkäfer. Aber die hat Revierförster Jürgen Weis im Griff. Er steht neben einem Keltengrab, die Hand am Stamm einer sehr dicken, alten Eiche. Schlimm war vor allem Lothar, sagt Weis. Der habe jahrzehntealte Bäume einfach „umgepustet“. Die Mitglieder des CDU-Ortsvereins Pleidelsheim nicken betroffen. Immerhin geht es ihrer Partei ja auch ein bisschen so.

Es ist ein Freitag im Frühling, die Sonne scheint, ein schöner Tag. „Das haben wir auch verdient“, findet Britta Steinmetz. Sie ist klein, blond, gemütlich, im Vorstand des CDU-Kreisverbands Ludwigsburg, Mitglied der Frauen-Union und die erste Vorsitzende der Pleidelsheimer CDU, die an diesem Tag zum Waldspaziergang ins benachbarte Steinheim an der Murr gereist ist. „Regnen kann's dann, wenn die Grünen kommen“, sagt sie.

Tut es aber nicht. Im Moment scheint die Sonne über keiner Partei stärker als über den Grünen, während sich die CDU durch das tiefe Tal ihrer größten Niederlage wälzt. Die Frage ist nur: wie geht es ihr dabei?

Außer in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt geht die CDU im Superwahljahr 2011 bisher aus keiner Wahl ohne Minuszeichen hervor. Bürgerschaftswahl in Hamburg: minus 20,7 Prozent. Kommunalwahl in Hessen: minus 4,8 Prozent. Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen rutschte die CDU sogar erstmals bundesweit hinter die Grünen ab. Und in Baden-Württemberg verliert die Partei nicht nur 5,2 Prozent, sondern auch den schon angestammten Platz in der Villa Reitzenstein.

Die Katastrophe für die baden-württembergische Gewohnheitspartei heißt nicht Wiebke oder Lothar. Sie heißt Winfried und schlich sich über Monate in das Wahlvolk wie der Pilz, der momentan die Buchen im Steinheimer Wald befällt. Förster Weis zeigt auf einen abgestorbenen Ast. Der Ast sieht traurig aus.

„Wir waren uns unserer Sache zu sicher“, resümiert Britta Steinmetz zwischen braunen Haufen aus Fichtennadeln und bündnisgrünen Farnblättern. „Wir haben aufgehört zu kämpfen.“ Seit Jahren habe das Personal der Landesspitze nur darüber nachgedacht, „die Ärsche auf gut gepolsterten Stühlen zu platzieren“, und darüber vergessen, Politik zu machen. Jetzt müsse man sich auf die Stärken der CDU konzentrieren. Die sind? Britta Steinmetz macht „hm“. Grüner werden und sozialer und irgendwie auch konservativer, aber eigentlich weiß sie es auch nicht so genau. Woher auch. Niemand weiß es bis jetzt. Dafür ist sie sich in einem sicher: Letztlich habe die Partei wohl vor allem am Ministerpräsidenten gekrankt. „Stefan Mappus war nicht gut für die CDU.“

Ein „Malus-Faktor“, findet auch Michael Föll, der Erste Bürgermeister von Stuttgart und ehemaliger Vorsitzender des Kreisverbands. Er trat zurück. Übernahm die Verantwortung für drei verlorene Direktmandate in seinem Kreisverband. Eine Partei sucht ein erneuertes Profil.

Susanne Eisenmann wäre so eine Erneuerung auf Kreisebene gewesen. Sie war die erste Mahnerin im schwäbischen Lehrstück, in dem es schon lange nicht mehr nur um ein Bahnprojekt geht. Sondern darum, dass sich Teile der Bevölkerung belogen fühlen von denen, die sich Volksvertreter nennen. Anfang September vergangenen Jahres stellte Eisenmann sich gegen Rathauschef Schuster und Ministerpräsident Mappus, forderte einen Baustopp am Bahnhof sowie das Aussetzen der Demonstrationen bis zum geplanten Spitzengespräch am 10. September. Ein Affront gegen die eigene Partei, in einem Augenblick geäußert, als Schuster gerade in Santiago de Chile die „Plaza de Stuttgart“ einweihte und Michael Föll, Stuttgarts Erster Bürgermeister, im Urlaub war.

Susanne Eisenmann wäre eine mögliche Schnittstelle zwischen der CDU und den Grünen. Aber mit 175 von 326 Stimmen wählen die Stuttgarter CDU-Delegierten als Föll-Nachfolger Stefan Kaufmann, der sich in seiner Rede harsch gegen die neue Landesregierung wendet. Den Delegierten gefällt's. Kaufmann bekommt den größten Applaus. Die Partei habe sich wohl doch eher „gemächlichere“ Veränderungen gewünscht, sagt Susanne Eisenmann nach der Wahl.

Thomas Strobl denkt über das christliche Menschenbild nach

Thomas Strobl, vermutlich der künftige Parteichef in Baden-Württemberg, steht vor dem Podium und grinst, als er dem neuen Kreisvorsitzenden die Hand schüttelt. Er wippt auf den Hacken. Letztens hat Strobl einen Brief an die Parteifunktionäre im Land verschickt, in dem er eine innerparteiliche Reform fordert. Eine Art Streitschrift zur Revolutionierung der CDU. Der Titel: „Einige provokante Fragen und Thesen: auf dem Weg zu einer erneuerten CDU Baden-Württemberg“.

Strobl schreibt: „Wir haben in diesem Bewusstsein die Laufzeitverlängerung durchgeboxt. Und jetzt? Was haben wir getan, um unseren Bürgern und Mitgliedern diesen radikalen Kurswechsel zu erklären?“ Und: „Was ist unser Alleinstellungsmerkmal als Union? Das christliche Menschenbild? Was ist das? Wann haben wir als Landespartei zuletzt mit den christlichen Kirchen darüber gesprochen?“

Die CDU Baden-Württemberg habe sich für unersetzlich gehalten, sagt er und schüttelt noch ein paar Hände. „Wir dachten, dass es ohne uns nicht geht.“ Darüber habe man das Zuhören verlernt.

Einige Wochen zuvor schien es fast, als gebe die Partei ihrer Basis bereits Gelegenheit dazu. Das Wahlergebnis und die Neuausrichtung der CDU wurden im April auf einem offenen Mitgliederparteitag in der Sindelfinger Stadthalle diskutiert. „Das gab's noch nie“, sagt Karl-Heinz Schubert. „Bisher durften nur Delegierte rein.“ Schubert ist 77 Jahre alt, Rentner, politisch engagierter Bürger im Ortsverein Filderstadt und tief verwurzelt im christlich-konservativen Milieu. Es herrsche eine arge Ratlosigkeit in seiner Partei, sagt er. „Man kann es immer noch nicht fassen.“

Seit Oktober des vergangenen Jahres trägt Schubert die CDU-Ehrennadel für 30 Jahre Mitgliedschaft am Revers. Daneben hat er den „Oben bleiben“-Button der Stuttgart-21-Gegner geheftet. Weil er nicht dem CDU-konformen Ja zum Tiefbahnhof gefolgt sei, habe man ihn noch vor Monaten in seinem Ortsverein „Nestbeschmutzer“ gerufen. Nun sei das anders, sagt Schubert. Jetzt sei seine Partei stolz, dass es einen gibt, der anders denkt.

Momentan denkt Schubert allerdings vor allem, seine Partei wolle ihn veräppeln. Da fordere man zur Neuorientierung mehr Basisnähe und dann so was. Ausgerechnet Wolfgang Schäubles Schwiegersohn Thomas Strobl schlägt die Parteispitze als einzigen Nachfolger für den Parteivorsitz vor. Wegen guter Beziehungen zur Bundes-CDU. Er sei aus allen Wolken gefallen, sagt Schubert. „Ausgerechnet der. Wie kann das sein?“ Er wünscht sich einen Kandidaten, der nicht in den alten Strukturen verhaftet sei. Steffen Bilger schlägt er vor, den Landesvorsitzenden der Jungen Union Baden-Württemberg. Der sei was, sagt Schubert. Was die Leute so wütend mache, sei vor allem die dauerhafte Unglaubwürdigkeit der Politik. Die CDU sei oben geschwommen, wie die Fettaugen auf der Suppe, 58 Jahre lang.

Wunsch nach Genesung und viel Zeit für die Grünen

Im Bootshaus in Herrenberg sitzen ein paar Männer, die schon einen Krieg erlebt hatten, bevor überhaupt jemand auf die Idee kam, die CDU zu gründen. Einige haben den Ortsverein mit aufgebaut und die Partei seitdem nicht mehr verlassen. Alois Plümper ist erst 69, ein gutmütiger Mann mit weißen Haaren. Er ist der Vorsitzende der Senioren-Union Herrenberg, die sich an einem Freitagnachmittag im Wirtshaus Botenfischer trifft. Kleine Kakteen schmücken die Tische, die Fenster sind getönt. Gelb, Butzenglas.

Ob man nach so vielen Jahren CDU-Mitgliedschaft in der Regierungspartei nicht angeschlagen ist, wenn die Partei plötzlich weg ist vom Fenster? Alois Plümper lacht. „Warum?“ Weil man fast sein ganzes Leben mit der stärksten Partei verbracht hat und nun brutal vor Augen geführt bekommt, wie defizitär sie ist? Nein, es sei scheinbar Zeit gewesen für etwas Neues, etwas, das gut ist für das Land, für die Region, für die Städte und Dörfer.

Die CDU sei wie ein Dampfer. „Und den dreht man nicht so schnell.“ Winfried Kretschmann sei außerdem die bessere Alternative gewesen als Stefan Mappus, sagt Alois Plümper. Vor allem das anfängliche Stottern und die Unsicherheit des neuen Ministerpräsidenten hätten ihm gefallen. „Das war so menschlich.“ Der alte Mann lacht. Alois Plümper wünscht seiner Partei natürlich einen Wiederaufstieg, eine baldige Genesung. Aber gleichzeitig wünscht er sich für die Grünen um Kretschmann viel Zeit. „Damit sie gute Politik machen können.“

Zeit zu wachsen. Damit sie nicht gleich vom Sturm umgepustet werden wie die Bäume im Wald hinter Steinheim an der Murr.