Ein Angstleben

Sie kommen oft ohne Ankündigung, brechen jäh in das Leben ein und beißen sich fest: Angstattacken. Wer daran leidet, duckt sich vor neuen Panikwellen weg, verkriecht sich aus Scham. Er funktioniert nicht mehr so, wie es eine auf Leistung und Fitness getrimmte Gesellschaft verlangt. Über das verfluchte Leben mit der Angst, über hermetische Kreisläufe – und Selbsterfahrungen

von Rainer Nübel

Es war, als ob sich Freunde, die sich gefühlte hundert Jahre kennen, erstmals begegnen würden. Es war, als ob sie sich zum ersten Mal etwas mitteilten. Und es war ein Schock, ein merkwürdig positiver Schock, der sie kurz erstarren ließ, in dem Augenblick, als dieses Wort fiel und das Schweigen aufbrach. Angst.

Die drei Männer hatten sich abends in einer Kneipe getroffen, in ihrer Kneipe, wie immer, seit ewigen Zeiten, mindestens seit 25 Jahren. Zwei Bierkrüge und ein Rotweinglas standen auf dem rustikalen Tisch, an dem sie saßen, rechts in der Ecke, am Fenster. Wie immer. Die Gespräche drehten sich um Gott und die Welt, also hauptsächlich um den Beruf. Dass von Stress gesprochen wurde, auch von ständigen Erwartungen, Anforderungen und vom Hamsterrad, all das war nicht neu, das gehörte zum Ritual. Nicht aber jenes Wort, das plötzlich in die gemütliche Routine platzte. Und sich breitmachte, als ob es schon immer da gewesen wäre und deshalb ein Recht darauf hätte. Es war ja auch schon lange da, nur nicht ausgesprochen.

„Manchmal kann einen fast schon Angst überkommen, ob man das alles schafft – oder wie lange noch“, sagte einer der drei. „Geht es euch manchmal auch so?“ Die anderen stutzten, kratzten sich am Kinn. Dann, nach einem ungewöhnlich langen Schweigen, antwortete einer: „Ja, ich habe auch diese Angst.“

Pause, Blicke aus dem Fenster, weit über die Kneipenrunde hinaus. „Wenn du diese Angst nicht mehr loskriegst, ist es schlimm.“ Der Dritte trommelte mit den Fingern, staccato, der Tisch vibrierte. „Heißt das, dass du…, dass du Probleme damit hast, richtige Probleme?“ Als der Freund nickte, verstummten die trommelnden Finger. „Mir geht es auch so. Ich habe immer mal wieder so Angstattacken, richtige Panik.“ Jetzt hatte das Wort alles in dieser routinierten Runde verändert. „Ich auch.“ „Ich kenn das.“

Angst – vor Spinnen oder vor dem Fliegen, vor der Höhe oder vor dem Absturz, vor dem Verlassen oder dem Verlassenwerden, vor dem Sterben und vor dem Leben. Sie hat viele Seiten, Gesichter. Eigentlich soll sie sinnvoll sein, als natürliches Frühwarnsystem. Doch wenn sie sich in einen Menschen verbissen hat, ist sie eine Qual, eine verdammte Krankheit, vor allem in ihrer perfidesten Variante: als Angst vor der Angst.

Man kann sie nicht sehen, so wie man einen gebrochenen Arm sieht und sofort versteht. Sie versteckt sich in den Innenräumen. Und ihre Opfer halten sie dort versteckt, verpfeifen sie nicht, weil sie sonst selbst auffliegen, als Angsthasen, Paniker, Psychos, als Loser. Wie bitte schön sollen krankhafte Angststörungen, auch wenn sie nur vorübergehend wären, in diese auf Leistung und Fitness getrimmte Gesellschaft passen? Das macht dieses Problem, von dem – offiziell – rund sieben Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind, noch heimtückischer. Und treibt die immense Dunkelziffer noch mehr nach oben. Selbst engsten Freunden bleibt es oft lange verborgen, wenn einer von ihnen an Angstattacken leidet. Man lernt die Camouflage, irgendwann beherrscht man sie. Wie die drei Männer, die sie jahrelang voreinander praktiziert haben. Bis die Angst ihr Schweigen brach, als ausgesprochenes Wort, als sagbare Realität. Ich bin einer dieser drei.

Kein Herzinfarkt. Der Arzt sagt: Alles in Ordnung

Es war ein Jahr nach dem Tod meines Vaters, als die Angst sich in das Leben schlich. Plötzlich, wie ein fremder ungebetener Gast, der alles von einem zu wissen scheint, wie ein Stalker, der die intimsten Innenräume monatelang ausgeforscht hat. Der Tag war anstrengend gewesen, wie häufig in dieser Zeit. Hektische Redaktionsarbeit, Außentermine, dazwischen kurz die übliche Fahrt zur Mutter, wie geht es ihr, wie kommt sie mit dem Alleinsein klar, was könnte sie aus ihrer Trauerstarre reißen; abends noch einmal ein längeres Telefonat mit ihr und gleichzeitig Gedanken daran, wie morgen der Bericht angelegt werden könnte und dass neue Pressetermine anstehen.

Als ich im Bett lag, vermeintliche Ruhe einkehrte, brach es los: Zuerst ein Kribbeln am ganzen Körper, seltsam und unbekannt, der Puls begann zu pochen, dann ein Druckgefühl auf der Brust, bedrohlich, das Herz fing an zu rasen, Schweiß trat auf die Stirn, er fühlte sich kalt an, ein Gefühl von Übelkeit machte sich breit, jetzt legte sich der Druck auf das Herz, presste es zusammen. Immer stärker. Ein Gedanke schoss durch den Kopf wie ein Blitz: „So muss er gestorben sein.“

Ich hatte meinen Vater aufgefunden, damals. Ganz klar, das waren die Symptome seines Todes, sie mussten es sein. Wie in Trance verließ ich das Bett, zog mich eilig an, verließ das Haus, stieg ins Auto und raste ins Krankenhaus, die Panik im Kopf, in der Brust, im Herzen, überall. Die Untersuchungen in der Notaufnahme liefen wie ein Film ab, ich war mein eigener fremder Zuschauer, der auf das dramatische Stichwort wartete: Herzinfarkt. „Mit Ihnen ist alles in Ordnung.“ Der Arzt sprach ruhig, verdächtig ruhig. „Sie machen allerdings einen ziemlich enervierten Eindruck. Stress?“

In den nächsten Monaten wurde ich Stammgast von ärztlichen Wochenenddiensten. Die Angst meldete sich meist dann, sprang mich an, wenn die Hektik abflaute. Oder abzuflauen schien. Als ob sie mir auflauern würde, in den Momenten, in denen ich gar nicht mit ihr rechnete. Flüchtete ich vor ihr, ins Kino, auf eine Party oder zu einem Fußballspiel, wartete sie dort schon.

Die Angst vor der Angst warf mich auf mich selbst zurück. Bohrende Gedanken an Gründe, hilflose Selbstdiagnosen: Überforderung durch den Job und die Mutter, die sich immer mehr in ihre Trauer zurückgezogen hatte? Oder Selbstüberschätzung, die hybride Annahme, einen Vater irgendwie ersetzen zu können? „Sie wirken melancholisch“, sagten Ärzte. Von dem Psychopharmakum, das mir einer verschrieb, nahm ich nur zwei Tabletten und warf danach die Schachtel weg. Aus Angst, das Mittel gegen die Angst könnte mich abhängig machen – und neue Ängste auslösen. Längst hatten sich Kreise geschlossen, schien das System hermetisch geworden zu sein.

Früher hatte ich Bergtouren unternommen, war auf Klettersteigen rumgeturnt. Gratwanderungen ohne Angst. Jetzt schleppte ich mich im Urlaub von Ruhebank zu Ruhebank, brauchte eine halbe Ewigkeit, um einen kleinen See im Zugspitzgebiet zu umrunden. Wann hörte diese Scheiße endlich auf? Die Gondel fuhr hoch auf den Grubigstein, Wanderer machten sich oben auf den Weg, lachend, erwartungsvoll. Ich folgte ihnen einige Schritte, wollte dieses Gefühl wieder empfinden, der felsige Stein unter den Füßen, der Blick auf die grauen Gipfel. Die Schläfen pochten, der Gang unsicher, vom Rücken schien sich dieses Kribbeln wieder hochzufressen, bis in den Kopf. Doch es wurden immer mehr Schritte, ein, zwei Kilometer mussten es schon sein. Und es ging immer noch. Ich ging immer noch. Die Wanderer waren längst nicht mehr zu sehen. Doch als ich umdrehte und zurück zur Bergstation ging, keuchend, aufgeregt, war es, als ob sich das Gespenst für diesen Moment zurückgezogen hatte.

Solche Momente wiederholten sich in den nächsten Monaten. Es waren Augenblicke der Rückkehr. Ich hatte Glück. Verdammtes Glück. Nach eineinhalb Jahren war sie weg, fast so unerwartet, wie sie mich überfallen hatte. Bis heute weiß ich nicht genau, warum sie kam – und ging. Jetzt war die Angst eine Erinnerung, bedrohlich. Und ein Wort, ein verschwiegenes Wort.

Seitdem wusste ich oder glaubte zu wissen, wie es Peter ging. Was er durchmachte, schon seit mehreren Jahren, wie es in ihm aussehen musste. Früher, in der Schulzeit, hatte Peter gerne gefeiert, Partys organisiert. Und er war der Pannendienst der Clique: Blieben die Käfer oder Enten mal wieder liegen, reparierte er sie. Plagte manchen Liebeskummer, heulte er sich bei ihm aus. Kaum einer wusste damals, dass Peter da schon an Ängsten litt: Angst vor Prüfungen, vor dem Versagen. Als Ende der 80er-Jahre plötzlich sein älterer Bruder starb und Peter kurz darauf in einen Autounfall verwickelt wurde, brach die Krankheit aus.

Zuerst sprachen Ärzte von psychosomatischen Störungen, dann diagnostizierten sie krankhafte Angststörungen – und schließlich: chronische Angstneurose. Der Arbeitgeber kündigte ihm, als er aufgrund immer neuer Panikschübe nicht mehr regelmäßig in der Firma antreten konnte. „Jetzt bin ich Erwerbsunfähigkeitsrentner, mit 32“, schrieb er 1990 in sein Tagebuch. Dass er sich schämte, sich nutzlos, minderwertig fühlte, deutete er nur an. Peter besuchte eine Werkstatt für psychisch Kranke, die betreute Arbeit gab ihm Sicherheit. Doch Mitte Juli 1991 beschied ihm das Sozialamt, er müsse künftig selbst für den Arbeitsplatz zahlen. Dafür reichte aber seine Rente nicht. Er brach die Therapie ab.

Seitdem lebte Peter nur noch im elterlichen Haus, mit seiner Mutter. Jeder Versuch rauszugehen, die paar lächerlichen Schritte zum Gartentor und dieses dann zu öffnen, dieser ganz normale Vorgang, scheiterte irgendwann. Er sah, hörte und spürte dann nur noch eins: Panik. Er zog sich zurück, ins Haus, seinen Fluchtort, der gleichzeitig Gefängnis geworden war.

Zwölf Jahre zu Hause, im Gefängnis der Angst

„Mensch, Peter, geh doch raus. Lass dich nicht hängen. Gib dir einen Ruck, du musst nur wollen“, rieten die Freunde ihrem früheren Pannenhelfer. Bis nur noch wenige kamen. „Du weißt, dass ich es nicht kann“, sagte Peter zu mir, „du verstehst mich.“

Ich nickte dann immer. Auch wenn er am Fenster seines Wohnzimmers stand, auf die Straße schaute und in sich hineinhorchte: „Dieses Alleinsein ist besonders beschissen. Was ist das für ein Leben? Ich gehöre nicht mehr dazu.“

Irgendwann begannen wir sein Tagebuch, das er seit Jahren schrieb, gemeinsam zu lesen. Vielleicht interessierte diese Aufzeichnung der Angst auch andere, fremde Leidensgenossen oder diejenigen, die nichts von dieser verfluchten Krankheit wussten, weil sie, noch immer, ein Tabu war. Vielleicht war das eine Möglichkeit, Signale nach außen zu senden. Und Reaktionen zu bekommen, Kontakte, Lebenszeichen. Ihm gefiel der Gedanke. Weil er ablenkte. Und nach Hoffnung klang.

Ich schrieb seine Geschichte auf. Wie die Angst ihn nach und nach immer stärker in den Griff bekommen hatte. Wie er gegen sie ankämpfte – und immer wieder verlor. Wie er die Wochen, Stunden und Tage danach maß, wann er die letzte Panikattacke hatte. Wie er sein Angstleben zu ordnen versuchte, mit einem streng geregelten Tagesablauf. Wie er schon zwölf Jahre nur zu Hause, im Gefängnis der Angst lebte und dennoch die Hoffnung hatte, dass er eines Tages aus- und aufbrechen würde. Wie sich auch sein körperlicher Zustand zunehmend verschlechterte. Wie er es hasste, seiner alt gewordenen Mutter „am Rockzipfel zu hängen“, im Wissen, dass er den Weg nach draußen unbedingt schaffen musste, solange sie noch lebte. Weil ihm sonst die Einweisung in eine psychiatrische Klinik drohte.

Er wollte, dass ich ihm einen anderen Namen gebe, aus Scham, aus Angst, erkannt zu werden. Seitdem hieß er Peter. Nachdem seine Geschichte in der Zeit erschienen war, brachte ich ihm die Leserbriefe, die in der Redaktion dazu eingegangen waren. Er las sie, immer und immer wieder. Von den Telefonanrufen, die ich bekommen hatte, wollte er jedes Detail wissen: der geäußerte Schock über sein Schicksal, aber auch Mitgefühl, Respekt davor, trotz alledem nicht aufzugeben – und viele Tipps, wo es Anlaufstellen und mögliche Unterstützung für ihn gebe. „Ich werde wahrgenommen“, sagte Peter, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das über die vielen Angstjahre fahl geworden war. „Irgendwie bin ich nicht mehr so allein.“ Er rief bei Experten und Selbsthilfegruppen an, die ihm empfohlen worden waren. Doch als die ihn baten, sie aufzusuchen, ließ er die Kontakte nach und nach einschlafen. „Du weißt, dass ich das nicht kann“, sagte er. Und ich nickte.

„Reporter vor Ort“ hieß die Veranstaltung der Stuttgarter Volkshochschule. Zehn Besucher verloren sich im Vortragssaal, als ich zu erzählen begann, von Peters Geschichte. Um die Atmosphäre nicht noch trostloser erscheinen zu lassen, war ein Kreis gebildet worden. Der plötzlich in Bewegung geriet, so, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die zehn Besucher begannen bald selbst zu erzählen, direkt, offen, einige zitternd, mit Tränen in den Augen. Sie alle hatten Panikerfahrungen, manche seit Jahren, sie waren Betroffene wie Peter. „Wenn er jetzt da sein könnte“, dachte ich.

Zu viel Verständnis für den Freund gezeigt?

Heute fallen mich Zweifel an. Und Fragen, unbequeme Fragen. Habe ich zu oft und zu rasch genickt, wenn Peter sagte, dass er den Weg nach draußen im Moment einfach nicht schaffe? Habe ich durch dieses – womöglich falsche – Verständnis mit bewirkt, dass er sich einrichtete in seinem Angstgefängnis – und mit verhindert, dass er aus- und aufbricht?

Gerne würde ich darauf Antworten bekommen, von Betroffenen. Um es wirklich zu begreifen, dieses Angstleben. Hätte ich nur einmal die Courage gehabt, Peter darauf anzusprechen! Jetzt ist es zu spät. Mit der Angst hatten sich in ihm zunehmend auch physische Krankheiten breitgemacht. Peter starb nur wenige Monate nach dem Tod seiner Mutter.

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