Alte Gurke oder Granate?

EINE FRAGE DER TECHNIK Radler haben mehr zu verlieren als ihre Ketten: GPS-Navi, Gel-Sattel oder Doppelklang-Glocke. Zwei Ansichten übers Velo: Was es sein sollte – und sein kann

69 Millionen Velos soll es hierzulande geben – weit mehr als Pkws. 2010 wurden knapp 4 Millionen neue Modelle verkauft. Im Straßenverkehr rollt allerdings der mehr oder weniger gepflegte Altbestand. Der Durchschnittspreis eines Neurades lag 2009 bei 446 Euro, im Standard-Fachhandel bei 624 Euro. Im gehobenen Fachhandel waren 2010 im Schnitt 1.057 Euro auf die Ladentheke zu legen.

VON LARS KLAASSEN

Dieser Text ist ein Plädoyer für eine völlig unterschätzte Sorte von Fahrrädern: die alten Gurken. Klar, ohne technische Innovationen hätte es auch diese Drahtesel niemals gegeben. Als das mittlerweile skurril anmutende Hochrad sich im späten 19. Jahrhundert zu dem entwickelte, was wir bis heute mehr oder weniger auf unseren Fahrradwegen sehen, geschah das mit Hilfe innovativer Hightech-Entwicklungen: Kettenantrieb, trapezförmige Rahmen und mit Luft gefüllte Reifen sind seit über 100 Jahren eine feine Sache.

Diese Technik von gestern kann sich auch heute noch sehen lassen: Gestänge- oder Rücktrittbremse sind so gut wie unkapputtbar. Mit Letzterer kann man außerdem stehen bleiben, ohne einen Finger zu rühren. Ein ordentlich gemuffter Stahlrahmen wird im Laufe der Jahrzehnte vielleicht seine Lackierung verlieren, aber nicht seine Stabilität. Eine entscheidende Frage bei allem, was als der neue heiße Technikscheiß angepriesen wird, lautet: Kaufe ich damit etwas, das mein Fahrrad noch pannenanfälliger macht? In vielen Fällen lautet die Antwort: ja. Und wozu einen Gepäckträger mit Federklappe und Pumpenfach, wozu die Halterungen für zwei Trinkflaschen, wenn ich einen Spann- oder Weckgummi habe und dazu meine Umhängetasche?

Wo wenig technischer Schnickschnack dran ist, kann auch weniger kaputtgehen. Und das ist bei einem Gebrauchsgegenstand, der täglich genutzt wird, von entscheidendem Vorteil. Leute, die dreimal im Jahr ihr Superduper-Velo auf den Dachgepäckträger ihrer Limousine schnallen, um irgendwo im Grünen ein paar Kilometer zu strampeln, stellt sich diese Frage weniger dringlich. Solch selten genutzte Velos stehen meist im Keller oder in der Garage. Im Alltagsgebrauch müssen die meisten Radler ihr geliebtes Gefährt aber regelmäßig irgendwo am Straßenrand parken. Ob das gute Stück nach einigen Stunden oder gar über Nacht noch dort steht? Da regiert das Prinzip Hoffnung. Die Wahrscheinlichkeit, sein Velo wieder vorzufinden, steigt deutlich, je weniger es gekostet hat: Alte Gurken bleiben länger. Ein Fahrzeug allein deshalb zu nutzen, weil andere es wahrscheinlich nicht haben wollen, ist noch keine schlüssige Wahl.

Umso besser, wenn sich einfach mal die eigenen Bedürfnisse konträr zu denen der meisten anderen Menschen gestalten: Als großer Pluspunkt eines jeden Fahrrads wird fast ohne Ausnahme sein möglichst geringes Gewicht angeführt. Dagegen ist aus Gründen der Bequemlichkeit auch überhaupt nichts einzuwenden. Wer sich aber auf seinen Wegen im Alltag ganz nebenbei auch noch das eine oder andere Pfund abtrainieren möchte, ist über ein paar Pfunde, die der Drahtesel auf die Waage bringt, nicht unbedingt unglücklich: Denn wer mehr strampelt, verbrennt auch mehr Kalorien. Umso schöner, dass sich dieser nützliche Effekt mit so viel Eleganz und Ästhetik erzielen lässt: Wer will schon aufgeklebte Plastik-Logos spazieren fahren? Ein Adler auf dem Schutzblech oder ein Steuerkopfschild aus emailliertem Messingblech dürfen es schon sein.

VON HELMUT DACHALE

Jack London hatte einen Hang zum Selbstmordattentäter. Aber wohl nur dann, wenn er auf dem Fahrrad saß. Volles Tempo und sich dabei zu fragen, „wann du dir wohl den Hals brichst“ – das hielt er für einen „Mordsspaß“.

Ab und an die Pace zu machen – warum denn nicht? Aber sich und anderen dabei die Knochen zu brechen? Finde ich nicht so lustig. Also hätte ich gerne eine Infrastruktur, die die sanfte Mobilität bevorzugt (inklusive Verkehrsteilnehmer, die damit klarkommen). Und eine Fahrradtechnik, auf die ich mich verlassen kann. Letzteres ist am schnellsten zu bekommen.

Klar, unbesehen nach jedem Radl zu greifen, an dem ein „Hightech“-Button klebt (praktisch an fast jedem neuen), wäre fahrlässig. Nicht jeder in der Fahrradindustrie arbeitet Tag und Nacht daran, Schaltungen noch wartungsfreier und Reifen noch pannensicherer zu gestalten. Auch in dieser Branche gibt es genügend, die gern mal Kuriositäten und Chichi auf den Markt werfen. GPS plus Ladegerät am Lenker. 27 Gänge und dazu noch einen unterstützenden Elektromotor (dessen Akku nach 50 Kilometern für Stunden an die Steckdose muss). Oder lieber einen Cruiser mit unechtem Tank und Easy-Rider-Lenker, so breit, dass auf schmalen Radweg dich niemand überholen kann? Ist alles zu haben. In allen Varianten. Und wird manchmal auch gekauft.

Ich bevorzuge Innovationen, die wenigstens ansatzweise dieses Prädikat verdienen. Zum Beispiel hydraulische Felgen- oder auch Scheibenbremsen. Damit lässt sich das Fahrrad sanft wie auch pointiert abbremsen. Aber immer so, dass man nicht Gefahr läuft, über den Lenker abzusteigen. Leicht zu bedienende Schaltungen. Wobei es neben den hochgängigen Kettenschaltungen mittlerweile auch Nabenschaltungen gibt, die verschwenderische Entfaltungsmöglichkeiten bieten, erheblich pflegeleichter sind – aber keinesfalls so belasten wie der Assistenzmotor mit seinem Akku. Reifen mit widerstandsfähigem Pannenschutzgürtel, bei denen die Scherben zumeist draußen bleiben müssen. Eine Lichtanlage, die dank Nabendynamo und LED-Leuchten keinen Grund mehr zum Versagen hat. So etwas hat das Fahrrad in den letzten Jahren nachhaltig verändert – aber es nicht in ein Moped oder ein kultig-klappriges Spielgerät verwandelt.

Zugegeben, auch auf dem Klapprad aus DDR-Produktion oder einem schwergewichtigen Modell aus Jack Londons Zeiten, das nur durch Gewaltbereitschaft zum Stoppen zu bringen wäre, käme ich unter Umständen ans Ziel. Aber würde mir das Spaß machen, tagein, tagaus? Es ist schon gut, dass es moderne Fahrräder gibt. Eine Menge von dem, was aktuell als Hightech gefeiert oder geschmäht wird, ist nicht nur verspielt, sinnfrei oder sündhaft teuer. Es lässt sich Technik finden (und manchmal auch geglücktes Design), die das Fahrrad noch attraktiver und sicherer, letztendlich zu einem perfekten wie profanen Fortbewegungsmittel macht. Ergo mithilft, das Auto zur überholten Blechkiste zu degradieren, zumindest in der City. Und darum geht’s ja schließlich auch.