Zustände des Kinos

Die Kurzfilmtage Oberhausen verhandeln in der Sonderreihe „Kinomuseum“ das problematische Verhältnis von Kino und Kunst und schicken das Publikum auf Wanderschaft durch die Säle

von DIETMAR KAMMERER

Vom unteren Ende des Friedensplatzes in Oberhausen bis in den Vorführraum des Studiokinos „Gloria“ geht man zu Fuß in etwa sechs Minuten. So lange dauert „Screening Room“ von Morgan Fisher, eine einzige, ungeschnittene Kamerafahrt ebendieses Weges. Der Film ist gewissermaßen seine eigene Anfahrtsbeschreibung: Er darf ausschließlich in dem Raum und auf der Leinwand vorgeführt werden, die in seiner finalen Einstellung zu sehen sind. Für jeden anderen Ort muss er erneut produziert werden. 1968 hat Fisher die erste Version – er selbst spricht lieber von „states“, Zuständen – von „Screening Room“ gedreht. Für die Sonderreihe „Kinomuseum“ der diesjährigen 53. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen hat er nun den mittlerweile neunten Film-Zustand realisiert. Dafür musste der Künstler nicht einmal selbst Hand anlegen: Er hat einfach telefonisch einem Kameramann die notwendigen Anweisungen mitgeteilt. „Screening Room“ ist eine bizarre Wette gegen den Universalitätsanspruch des Kinos, ortsgebunden und zugleich aus dem leichtesten Stoff der Welt, aus einer Idee, die fernmündlich übertragbar ist.

Derartige Strategien künstlicher Verknappung kennt man sonst vor allem aus dem Kunstbetrieb. Dort besitzt nur das Seltene einen Wert, während Film gerade auf seiner prinzipiell endlosen Reproduzierbarkeit beruht. Das Sonderprogramm „Kinomuseum“ nahm sich dieser tendenziell problematischen Beziehung an. Verantwortet vom Londoner Filmkurator Ian White drehte sich in zehn Programmen und einer Podiumsdiskussion alles um „white cube“ und „black box“: Film kann Kunst sein, aber die Räume, in denen Filmkunst präsentiert wird, gehorchen unterschiedlichen, mitunter konträren Gesetzen. So wird von Galeriebesuchern nicht erwartet, sich ein dreißigminütiges Künstlervideo von Anfang bis zum Ende anzusehen, während im Kino schon die Bestuhlung dafür sorgt, dass man auch dann sitzen bleibt, wenn auf der Leinwand gräulich verschmutzte Totenschädel gebürstet werden, wie in Marina Abramovic’ „Cleaning the Mirror“. Die Probe aufs Gegenteil bestätigte nur diese Regel. Der Versuch, das Publikum für das Programm „Fallout“ auf verschiedene Kinosäle zu verteilen und zum Wandern zu zwingen, führte zu jeder Menge Verwirrung und Zuschauern, die wegen Platzmangels ausgeschlossen blieben. Egal, denn: „Wir sind alle das Museum“, wie White seine Einführungen humorvoll beendete.

Gleich mehrere Filme behandelten das Museum als enzyklopädische Institution, in der das Gedächtnis der Welt aufbewahrt wird, wie in Alain Resnais’ „Toute la mémoire du monde“ (1956), einer Dokumentation über die Organisation der Bestände der Pariser Nationalbibliothek. Wie das Kino kennt auch das Museum seine Strategien der Inszenierung und der Distribution. Das Naturkundemuseum in New York war eines der ersten, das seine Exponate in aufwändigen Dioramen organisierte. Im Lehrfilm „Mounting Buffalo“ (1920) konnte man erfahren, wie ein Büffel von Tierpräparatoren in seine eigene Haut eingekleidet wird. In „The School Service at the American Museum of Natural History“ (1927, Foto) wird das Museum gar zum Verleih: Mitarbeiter versorgen pädagogische Einrichtungen mit Filmen, Dias und kleinen Schaukästen. Der Film ist zugleich ein historisches Dokument über das Leben in den ärmeren Bezirken der Stadt.

Der Bewegung vom Ausstellungs- in den Stadtraum folgt auch David Lamelas’ „A Study of Relationships between Inner and Outer Space“ von 1969. Ausgehend vom Camden Arts Centre in London, das in objektivistischer Manier vermessen und beschreiben wird, über eine Einführung in die differenzierten klimatischen Verhältnisse des Zentrums und der Außenbezirke Londons, gelangt der Film zum größten von Menschen erschlossenen Kreis: Ein Interviewer befragt Passanten zu ihren Ansichten über die damals aktuell bevorstehende erste Mondlandung.

Andere Filme erforschten den Kunstraum als gelebte Institution, als Beziehung zwischen Menschen. In „Audience/Performer/Mirror“ verkehrt Dan Graham das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum. Vor einem Spiegel stehend, beschreibt er detailliert seine eigenen Handlungen und die Reaktionen der Zuschauer darauf. Alles wird beschrieben, die Wände des Raums, die vereinzelten Lacher, das Wegsehen – nur nicht die Anwesenheit der Kamera, die Grahams Performance nicht bloß dokumentiert, sondern wirklich nachvollzieht. Eine frontale Ansprache des Zuschauers ist auch Ina Wudtkes selbstironisches, in Clipmanier geschnittenes „A Portrait of the Artist as a Worker (rmx.)“, die visuelle Umsetzung eines Essays des Philosophen Dieter Lesage über Selbstausbeutungen und Schizophrenien im heutigen Kunstbetrieb.

Während im Inneren des Kinos imaginäre Filmmuseen errichtet wurden, fand vor der Festivalstätte eine Auseinandersetzung mit einem ganz anderen Bildraum statt. Eigens für YouTube inszenierten Festivalteilnehmer spontan den „Blitzfilm“, eine lose Aneinanderreihung von jeweils 15 Sekunden Ruhm, verfügbar auf der ganzen Welt – sozusagen das Gegenmodell zu Fishers „Screening Room“. Wie passend, dass die BBC am Dienstagabend ankündigte, ab sofort ein digitales Werk des britischen Künstlerduos Gilbert and George zum kostenlosen Download anzubieten. Allerdings nur für 48 Stunden. So viel Verknappung muss also immer noch sein.