Neun tote Zivilisten bei Nato-Angriff

Isaf-Soldaten erwidern in Afghanistan einen Angriff mit Bomben auf ein Wohnhaus. Am Sonntag erst waren zehn Zivilisten beim Beschuss durch amerikanische Soldaten umgekommen. Journalisten waren dabei als Zeugen höchst unerwünscht

VON BERNARD IMHASLY

Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden in Afghanistan Zivilisten von internationalen Soldaten getötet worden. Einen Tag nach dem schweren Zwischenfall mit amerikanischen Spezialkräften der Operation Enduring Freedom (OEF) auf der Straße von Jalalabad zum Khyber-Pass kam es in Kapisa, einer Nachbarprovinz von Kabul, zu einem Luftangriff von Nato-Truppen. Nachdem ein Wiederaufbau-Stützpunkt unter Beschuss geraten war, bombardierten die Nato-Soldaten ein Gelände, auf dem sich auch die Lehmhütte einer Familie befand. Neun Mitglieder einer afghanischen Großfamilie, darunter vier Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren, starben bei dem Angriff. Ein amerikanischer Militärsprecher erklärte später, vom Gelände des Wohnhauses seien Raketen abgefeuert worden. Auch hätten sich dort Bewaffnete bewegt. Daraufhin seien zwei 900 Kilogramm schwere Bomben abgeworfen worden. Die Aufständischen hätten offensichtlich ein Wohngebiet für ihre Angriffe benutzt und die Zivilbevölkerung wissentlich in Gefahr gebracht. Laut einem Nato-Sprecher wird der Vorfall untersucht.

Zwei Vergeltungsschläge mit zivilen Opfern in zwei Tagen zeigen die wachsende Nervosität der in Afghanistan stationierten Truppen. Jedermann erwartet verstärkte Angriffe durch die Taliban. Die Verhaftung von zwei ranghohen Taliban-Führern vor einigen Tagen lässt Racheakte befürchten und erhöht die Spannung. Dies mag die panische Reaktion erklären, denn keiner der beiden auslösenden Angriffe hatte Todesopfer oder Schwerverletzte zur Folge gehabt.

Wie angespannt die Soldaten sind, war vor allem bei dem Hinterhalt vom Sonntagmorgen auf der Straße zur pakistanischen Grenze deutlich geworden. Auf der dicht befahrenen Straße wollte offenbar ein Kleinbus ein Fahrzeug einer OEF-Patrouille rammen. Unklar ist weiterhin, ob es sich dabei um ein versuchtes Selbstmordattentat handelte. Gleichzeitig kamen die Militärfahrzeuge von drei Seiten unter Kleinfeuerbeschuss. Die amerikanischen Soldaten sollen darauf laut Augenzeugen wahllos auf Alles geschossen haben, was ihnen verdächtig vorkam. Von Kugeln durchsiebt wurden offenbar auch zivile Fahrzeuge, die am Straßenrand gehalten hatten oder auf der dicht befahren Straße vorbei- und weiterfuhren. Verletzte wurden auf einer Distanz von mehreren hundert Metern entlang der Straße geborgen. Bei den Toten – die Zahl wurde inzwischen von sechzehn auf zehn korrigiert – und den 35 Verletzten soll es sich ausschließlich um Zivilisten handeln. Allerdings steht eine Identifizierung noch bevor.

Nach dem Vorfall am Sonntag hat die Agentur AP gestern schwere Vorwürfe gegen das amerikanische Militär erhoben, nach denen Journalisten von US-Soldaten behindert worden seien. Einem AP-Fotografen, der Bilder eines Personenwagens mit drei Leichen im Innern schießen wollte, sei die Kamera abgenommen und die Bilder gelöscht worden. Einem Kameramann von AP Television News sei verboten worden, sich dem Tatort zu nähern. Auch Mitarbeiter lokaler Fernsehstationen berichteten, sie seien aufgefordert worden, ihr Filmmaterial zu löschen. „Andernfalls“, so wurde ein Soldat zitiert, „werdet ihr gelöscht.“

Obwohl der afghanische Präsident Hamid Karsai den Tod der Zivilisten verurteilte und eine Untersuchung der Vorfälle anordnete, richteten sich die Proteste, die der Schießerei vom Sonntag folgten, gegen ihn. Ihre Heftigkeit zeigt, wie groß die Spannung unter der kriegsgeplagten Bevölkerung ist. Sie lassen befürchten, dass der politische Preis in Form eines Sympathiegewinns für die Taliban ausfallen wird.