Flanieren oder chauffieren

Die Neusser City soll urbaner werden, eine Tram durch die Haupteinkaufstraße stört da nur. CDU, FDP und Mittelstand forcieren die Stilllegung der Linie 709, die Bürgerinitiative „Pro 709“ hält dagegen und will sogar eine Weiterführung in die Vororte. Die Standpunkte prallen aufeinander. An diesem Sonntag stimmen die Neusser in einem Ratsbürgerentscheid darüber ab

AUS NEUSS LUTZ DEBUS

Das Plakat der Jungen Union provoziert. Eine monströse, bösartig dreinschauende Straßenbahn mit Grünzeug zwischen scharfen Zähnen frisst sich ihren Weg durch die liebliche Fußgängerzone. Hip aussehende Passanten retten sich in Panik von den lebensgefährlichen Gleisen.

Nicht nur die CDU-Jugendorganisation möchte die Linie 709 lieber heute als morgen aus der Neusser City verbannen. Auch die seit Ewigkeiten regierende CDU sowie eine Vielzahl gut situierter Bürger haben sich in der Initiative „Pro Innenstadt“ zusammengeschlossen, um die Straßenbahn aus dem Verkehr zu ziehen. Dagegen regt sich seit einiger Zeit Widerstand. Mit Unterstützung von SPD, Grünen, BUND und VCD bildete sich die Bürgerinitiative „Pro 709“. Am kommenden Sonntag soll ein Ratsbürgerentscheid die strittige Frage klären, ob die letzten 800 Meter bis zur Endstation der aus Düsseldorf kommenden Linie stillgelegt werden sollen.

Die Argumente der Gegner und Befürworter prallen unversöhnlich aufeinander. Einige Geschäftsleute auf der Oberstraße träumen davon, ohne Tram, dafür mit Blumenkübeln und Straßencafés eine Flaniermeile kreieren zu können, die der nahen Düsseldorfer Königsallee ernsthaft Konkurrenz macht. Ohne die im Schritttempo durch die Haupteinkaufsstraße fahrende Linie 709, so die Argumentation von „Pro Innenstadt“, könne man Neuss urbaner und attraktiver machen.

Während die Oberstraße schon jetzt eher den gehobenen Bedarf befriedigen kann, wirkt deren Fortsetzung, die Niederstraße, nicht gerade wie eine urbane Attraktion. Filialen von Handy- und Backwarenkonzernen reihen sich hier in Bahnhofsnähe aneinander. Exquisite Wünsche können kaum erfüllt werden. Ein-Euro-Shops für Ein-Euro-Jobber statt Designerläden für die High Society laden eher, wie schon der Straßenname verrät, das niedere Volk zum Bummeln ein. Der CDU- und der FDP-Fraktion ist dieses Einkaufsparadies für Prekäre seit langem ein Dorn im Auge. Eine völlige Neugestaltung sowohl der Ober- wie der Niederstraße, so das Argument von CDU und FDP, sei in den nächsten Jahren ohnehin dringend notwendig, weil die Kanalisation erneuert werden muss. Straßenbahn weg, Edelläden her, so die einfache Rechnung. Dabei berufen sich die Neusser Lokalpolitiker auf den Willen der Anlieger. Die örtliche Industrie- und Handelskammer (IHK) hat bei einer Umfrage unter den Gewerbetreibenden der Innenstadt eine Mehrheit gegen die Linie 709 ausgemacht.

„Ein ziemlich fragwürdiges Ergebnis“, kommentiert Gerd Faruß von „Pro 709“ die IHK- Umfrage. Von 250 verschickten Fragebögen seien nur 43 zurückgeschickt worden. 23 Geschäftsleute hätten gegen die Straßenbahn, 20 dafür gestimmt. „Pro 709“ habe die Kaufleute daraufhin selbst befragt, so Faruß. Man sei von Geschäft zu Geschäft gegangen. Das Ergebnis: 55 Eigentümer hätten sich für die Straßenbahn ausgesprochen.

Auch sonst ist Gerd Faruß optimistisch, dass sich die Mehrheit der Neusser am Sonntag für ihre Straßenbahn entscheiden werden. Zu groß sei die Gefahr, dass sich durch eine Teilstilllegung der Strecke bald auch der Weg von Düsseldorf zum Hauptbahnhof nach Neuss nicht mehr lohnt. Denn die Gleise auf der Kardinal-Frings-Brücke, über die die Bahn den Rhein überquert, seien ebenfalls sanierungsbedürftig. Bei den zu erwartenden sinkenden Fahrgastzahlen im Falle eines Sieges der 709-Gegner, so die Einschätzung von Gerd Faruß, würde die Rheinbahn als Betreiberin in absehbarer Zeit die Linie rechtsrheinisch in Düsseldorf enden lassen. Endstation am Südfriedhof, hieße es dann mit makaberer Doppelbedeutung.

„Die Abkopplung von Düsseldorf wäre für Neuss katastrophal“, kommentiert dies der parteilose Sprecher des Aktionsbündnisses. Immer mehr Pendler müssten auf das Auto umsteigen. Das wäre aber in der Logik der Neusser Stadtplaner. „In der dann schienenfreien Innenstadt sind 700 neue Parkplätze vorgesehen“, erzählt Faruß.

Aber die Stimmung kippt. Immer mehr ehemalige Gegner der Straßenbahn wechseln das Lager. Der Optiker Michael Ritters hat sein Geschäft in der Sebastianusstraße, einer Querstraße zur Niederstraße. Früher sprach er sich gegen die Bahn vor seiner Ladentür aus. Aber dann redete er mit seinen Kunden über die geplante Stilllegung. Stark Sehbehinderte erklärten ihm, dass es ihnen ohne die Bahn nicht mehr möglich sei, in die Innenstadt zu gelangen. Treue Kunden aus Düsseldorf, die extra wegen des eher kleinstädtischen Flairs von Neuss die Reise über den Rhein wagen, sagten dem Augenoptiker, dass sie ohne die Linie 709 nicht mehr kommen würden. „Die Straßenbahn bringt mehr Kunden in die City“, erläutert Optiker Ritters seine private Marktanalyse. Auch die aktuelle Diskussion über Feinstaub, Kohlendioxid und Klimawandel habe ihn zum Umdenken bewogen. „Umweltplaketten für Städte werden kommen. Da werden wir Neusser Geschäftsleute noch froh sein, eine Straßenbahn zu haben“, warnt Ritter.

Der Fraktionsvorsitzende der FDP im Stadtrat, Heinrich Köppen, sieht das ganz anders. „Die CDU hätte mit ihrer absoluten Ratsmehrheit und natürlich mit unseren Stimmen die Strecke durch die City längst stilllegen können.“ Die Gemeindeordnung sieht eine Bürgerbeteiligung nämlich nicht zwingend vor. „Schließlich leben wir in einer repräsentativen Demokratie“, so Köppen. Leider hätte sich CDU-Bürgermeister Herbert Napp von der SPD zu dem Ratsbürgerentscheid überreden lassen. „So etwas wirkt bürgerfreundlich.“ Die Abstimmung am Sonntag koste den Steuerzahler 100.000 Euro. „Eine unnötige Ausgabe“, ergänzt der FDP-Politiker. Außerdem sei zu befürchten, dass sich die Neusser wider aller Vernunft für die Bahn entscheiden.

Inzwischen stehen die Aktivisten von „Pro 709“ täglich mit ihrem Infostand neben den Schienen. Die Nahverkehrsfans wollen für alte, kranke, behinderte und autolose Menschen eine Möglichkeit bewahren, in die City zu kommen. Die verwegenen Ökologen träumen gar von einer Verlängerung der Straßenbahnlinie in die südlichen Vororte. Dieser Plan würde durch die Demontage der Schienen zunichte gemacht. In ihren Flugblättern weisen die 709-Befürworter darauf hin, dass es sogar große Städte gibt, die in jüngster Vergangenheit ihr Straßenbahnnetz ausgebaut haben. Und eine Verschönerung der City sei auch mit funktionierendem Nahverkehr möglich. Zu viele Blumentöpfe könne man so oder so nicht in der neu einzurichtenden Fußgängerzone aufstellen. Schließlich müssten die Rettungswege frei bleiben.

In Neuss ist das Wahlkampffieber ausgebrochen. An fast jedem Laternenpfahl hängt ein Plakat. „Pro 709“ wirbt mit einem Liebespaar. Das Wahrzeichen der Stadt, das Oberntor, schmiegt sich zärtlich an eine süße kleine Straßenbahn. Direkt daneben hängt das Monster der Jungen Union. Besonders originell wirkt der Slogan der Initiative „Pro Innenstadt“: „Ja für die umweltfreundlichste aller Straßen: eine Fußgängerzone“. Die größte Zeitung in der Region, die Neuss-Grevenbroicher Zeitung, ein Ableger der konservativen Rheinischen Post, schreibt fast täglich, wie schön eine straßenbahnlose Zukunft aussehen könnte.

Wahrscheinlich wird sich trotz des medialen Wirbels nicht jeder am Sonntag an dem Bürgerentscheid beteiligen. Der gemeine Neusser kauft nämlich eher in Köln oder Düsseldorf ein. Seine City ist ihm völlig schnuppe. Und das liegt eher an dem Aroma der Stadt als an der fehlenden Angebotsvielfalt oder der bösen Straßenbahn. Denn während es auf der Düsseldorfer Kö nach Parfüm und Porsche-Abgasen riecht, stinkt es in Neuss wegen zwei zentral gelegener Fabriken 24 Stunden lang nach Sauerkraut und ranzigem Speiseöl.