BEI DER WAHL IN ESTLAND GELANG DEN GRÜNEN EIN ÜBERRASCHUNGSERFOLG
: Rückenwind durch Klimadebatte

Schon bei ihrem Start im vergangenen Herbst konnten die Grünen medial punkten. Erst die Ölpest an den Ostseestränden, dann die Vorgänge um das Giftmüllschiff „Probo Koala“, das nach seiner Odyssee durch verschiedene Häfen in Estland an die Kette genommen worden war – davon profitierte die Partei. Den richtigen Schub bekam ihre Kampagne aber erst durch die Klimadebatte, die auch an Estland nicht vorbeigeht. Im Gegenteil: Weil im Nordosten des Landes aus der Verbrennung von Ölschiefer der wohl schmutzigste Strom Europas produziert wird, liegt das Thema dort nahe. Die Grünen wollen auf Estlands Ostseeinseln lieber große Windkraftparks errichten.

So wiederholte sich bei der fünften Parlamentswahl in Estland seit Erlangung der Selbstständigkeit ein Muster aus vorangegangenen Wahlen: Dass es einer ganz neuen Partei gelingt, trotz 5-Prozent-Hürde auf Anhieb ins Parlament zu kommen. Diesmal besitzt dieser Newcomer ein grünes Programm. Gut möglich, dass die grüne Truppe auch die künftige Regierungspolitik mitprägen wird.

Eigentlich war Estlands Ökobewegung bereits eine der treibenden Kräfte im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes gewesen. Schon 1990, vor Erlangung der Selbstständigkeit, stellte die damalige grüne Partei mit ihrem Vorsitzenden Toomas Frey den Umweltminister. Doch ähnlich wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten glaubte eine Mehrheit der Bevölkerung dann auch in Estland, mit dem Einzug des Kapitalismus erst einmal auf ganz andere Prioritäten setzen zu müssen als gerade auf den Umweltschutz.

Dem neuerlichen Aufstieg der Grünen steht auf der anderen Seite der Absturz der Rechtspopulisten entgegen, deren Stimmenanteil halbiert wurde. Das Thema eines sowjetischen Soldatenehrenmals, von ihnen in der Endphase des Wahlkampfs aus der Versenkung geholt, erwies sich eher als Rohrkrepierer. Statt sich noch länger mit dem Erbe der sowjetischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wollen immer mehr Esten offenbar lieber nach vorne schauen. Dort gibt es auch mehr als genug zu tun. REINHARD WOLFF