Achilles schlägt zu

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

Gestern begann im Süden Afghanistan die breit angelegt „Frühlingsoffensive“ der Nato. Truppen der Isaf und der afghanischen Armee waren laut einem Sprecher der Isaf bereits am Dienstagnacht in Stellung gegangen und begannen am Mittwochmorgen in den vier Bezirken von Sangin, Kajaki, Musa Qala und Nazak im Norden der Provinz Hel- mand Vorwärtspositionen zu besetzen.

Vorläufig sind neben 1.000 afghanischen Soldaten Truppen Kanadas, der Niederlande und der USA engagiert, während 1.400 britische Soldaten in Reserve gehalten werden. Der für die Südregion zuständige Generalmajor Ton van Loon erklärte, „Operation Achilles“ werde einen Truppenbestand von 5.500 Mann erreichen. Es sei die bisher größte gemeinsame Militäraktion seit der Befreiung des Landes von den Taliban. Das unmittelbare Ziel sei die Verbesserung der Sicherheitslage, um die Bedingungen zu schaffen, damit die Regierung den wirtschaftlichen Wiederaufbau in die Hand nehmen kann. „Diese Operation nimmt Taliban-Extremisten aufs Korn“ erklärte van Loon, an das afghanische Volk gerichtet, „sowie Drogenhändler und ausländische Terroristen, die euch missbraucht haben.“ Die Militärkampagne erfolge auf Bitte der afghanischen Regierung. Sie forderte gestern bereits ihr erstes Opfer bei der Isaf. Zur Nationalität des getöteten Soldaten machte die Nato wie üblich keine Angaben.

Ein Brennpunkt der Offensive ist der Staudamm von Kajaki im gleichnamigen Bezirk. Der immer wieder von den Taliban bedrängte Ort stellt den wichtigsten strategischen Wert in dieser Region dar, deckt er doch, wenn er voll funktionsfähig ist, den Bewässerungsbedarf von 1.7 Millionen Bauern. Seit der partiellen Zerstörung des Damms genügt das gestaute Wasser nur noch für rund 300.000 Bauernfamilien. Damit wird auch einer der beiden Gründe für die Wahl dieses Operationsgebietes deutlich. Kajaki und dessen Nachbarbezirke liegen am nördlichen Ende der Provinz Helmand, wo der Helmand-Fluss aus den Bergen tritt und in die weite Ebene der Registan-Wüste abfließt. Der Staudamm ist damit für die Wasserversorgung dieser extrem trockenen Gegend und das wirtschaftliche Überleben ihrer Bewohner von großer Bedeutung. Wenn es der Regierung nicht gelingt, diese Ressource unter ihre Kontrolle zu bringen, kann sie auch nicht den wirtschaftlichen Wiederaufbau beginnen. Und dies würde die Bauern von Helmand, dem größten Opiumproduzenten unter den afghanischen Provinzen, weiterhin zwingen, auf den illegalen Drogenanbau zu setzen. Die Kontrolle des Wassers soll daher die Voraussetzung schaffen, den Teufelskreis von wirtschaftlicher Not und dem drogenfinanzierten Zustrom von Taliban-Freiwilligen und ihrem Waffennachschub zu brechen.

Der zweite Grund für die Wahl des Operationsgebiets könnte mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Taliban-Verbände ihre wichtigsten Verstecke und Lager in den Bergen des südlichen Hazarajat in der Provinz Uruzgan und im Norden von Helmand haben. Angesichts der absoluten Luftüberlegenheit der Nato bieten in der kahlen Topografie Afghanistans Gebirgstäler dem Gegner am Boden die einzigen einigermaßen sicheren Schlupfwinkel und decken Vormarsch und Rückzug. Die meisten militärischen Taliban-Angriffe im umkämpften Süden Afghanistans sind in den vergangenen zwei Jahren aus diesen Bergtälern heraus ausgelöst worden. Es ist anzunehmen, dass es ein Hauptziel der „Operation Achilles“ sein wird, diese losen Verbände aufs Korn zu nehmen.

In Dschalalabad versammelten sich gestern vor einem Universitätsgebäude rund tausend Demonstranten, um die Koalitionstruppen sowie die Isaf mit Transparenten wie „Tod den Koalitionstruppen“ zum Abzug aufzufordern. Hunderte Polizisten waren im Einsatz, um die Demonstranten von einem Marsch ins Stadtzentrum abzuhalten. In der Nähe von Dschalalabad waren am Sonntag nach Angaben der afghanischen Regierung zehn Zivilisten ums Leben gekommen, als es nach einem Selbstmordanschlag auf einen US-Armeekonvoi zu einem Schusswechsel kam. Augenzeugen berichteten, die US-Soldaten hätten die Zivilisten durch wahllose Schüsse getötet. Afghanistans Präsident Hamid Karsai kündigte eine Untersuchung der Vorfälle an.