Pulsader der Stadt

An der Elbe kommt in Hamburg niemand vorbei: Landungsbrücken, Hafenrundfahrt, damit fängt in der Stadt mit dem weltgrößten Hafenfest, das an diesem Wochenende gefeiert wird, alles an. Künftig sollen auch die Stadtteile südlich der Werften besser an die Innenstadt angebunden werden

VON JAN KAHLCKE

„Papa, ich will das Meer!“, quengelt ein Knirps von Vaters Schulter. „Das ist nicht das Meer, das ist die Elbe“, doziert der. Meer? Elbe? Ist doch egal. Für die Touristen beginnt das Meer, wenn sie die Landungsbrücken unter sich schwanken spüren und ihnen zwischen Frittierfett und Dieselabgasen das erste Mal blümerant wird. Aber auch für die meisten Hamburger gilt: Binnenland, das liegt stromaufwärts. Landungsbrücken, Hafenrundfahrt, damit fängt alles an in Hamburg.

Unsere Hafenrundfahrt beginnt ein paar Meter weiter, im trutzigen Kopfbau des alten Elbtunnels – auf dem Rad. Langsam sinken wir im hölzernen Autoaufzug aus der Mittagssonne in die Düsternis unter dem Flussgrund. Dass sich hier zu Schichtbeginn die Arbeitermassen von St. Pauli in den Hafen schoben, ist lange her. Auf der Südseite scheint die Sonne noch ein bisschen heißer auf die Zollstation, die an einen alten DDR-Grenzposten erinnert. Rechter Hand liegt die Werft Blohm & Voss, einst der Stolz hamburgischen Schiffbaus. Längst laufen hier nicht mehr die großen Pötte vom Stapel. Kriegsschiffe, Jachten, ein paar Reparaturen, das war’s.

Ein philippinischer Matrose wandert vorbei an Walter Herings Tauwerkhandel in Richtung Innenstadt. Ein paar Minuten später noch einer. Und noch einer. Die ganze Crew scheint ein und dasselbe Ziel zu haben. Die Matrosen haben Glück: Ihr Schiff musste zur Reparatur in die Norderwerft. Meistens liegen die Containerschiffe heutzutage in abgelegenen Hafenbecken, und die Ladezeiten haben sich so weit verkürzt, dass der Landgang kaum noch zu schaffen ist.

Im Grünzug rund um Alt-Wilhelmsburg riecht es überall nach Grillfleisch. Alle paar Meter sitzen alte Männer und lassen sich von Mädchen in streng gebundenen Kopftüchern die besten Stücke reichen. Am Vogelhüttendeich hat sich in einer windschiefen Hinterhofklitsche ein „Islamisches Studienzentrum“ etabliert. Das Rialto-Kino ein paar Häuser weiter sieht aus, als sei es seit 20 Jahren geschlossen. Und das hier soll der nächste In-Stadtteil werden?

Der Hamburger Senat hat zum „Sprung über die Elbe“ angesetzt, was nichts anderes bedeutet, als dass die bisher vernachlässigten Stadtteile südlich des Stroms an die Stadt herangerückt werden sollen. Weil Wilhelmsburg dabei eine Brückenfunktion zukommt, hat die Stadt für 2013 eine Internationale Bau- und Gartenbauausstellung spendiert. Schon jetzt versuchen städtische Wohnungsgesellschaften verstärkt, Studenten und andere Pioniere der Umstrukturierung ins Viertel zu bringen. Die Voraussetzungen sind zumindest im alten Ortskern nicht schlecht: eine weitgehend geschlossene Gründerzeitbebauung mit hohem Sanierungsbedarf, viel Grün, drei Kilometer bis zum Rathaus.

Erste „Erfolge“ sind schon zu sehen: In eine Stadtvilla in der Fährstraße ist ein linkes Wohnprojekt entstanden, zu erkennen an der Fassade in Gelb-Orange. Am geräumigen Stübenplatz, den ein Stadtmöblierungsungetüm aus gewellten Dächern ziert, hat ein portugiesisches Café eröffnet, in Hamburg ein untrüglicher Gradmesser für eine angesagte Wohngegend.

An der Hafenrandstraße zieht sich ein schnurgerader Deich entlang, hinter dem man das offene Meer oder wenigstens das Watt vermuten könnte. Ein junger Mann hat sich zum Ausruhen draufgelegt. An der Straßenseite. Denn auf der Deichkrone steht ein Dreimeterzaun, mit doppeltem Stacheldraht an der Spitze. Er beschützt den Spreehafen vor den Wilhelmsburgern. Wenn der Zaun nicht wäre, könnten die Wilhelmsburger hier ihr häufig müßiges Leben genießen. Zur Bauausstellung 2013 soll ihnen nun endlich der Zugang erleichtert werden.

Schon in diesem Sommer wird ein paar hundert Meter östlich das Auswanderermuseum BallinStadt eröffnet, am Müggenburger Hafen, genau dort, wo Ende des 19. Jahrhunderts Millionen Menschen aus ganz Europa in Richtung neue Welt in See stachen. Sechs nagelneue historische Baracken hat man hier aus dem Boden gestampft, „originalgetreu“ aus Backstein, mit Sprossenfenstern und hölzernen Giebeln.

Der Reeder Albert Ballin hatte einst die famose Idee, die auf ihre Passage wartenden Auswanderer hier, außerhalb der damaligen Stadtgrenzen, unterzubringen, und ließ dafür neben Schlafbaracken auch Speisesäle, Kirchen und eine Synagoge errichten. Bei Bedarf wurde das Gelände kurzerhand abgeriegelt, um die Hamburger vor den Krankheiten der Armutsflüchtlinge zu schützen. Rekonstruiert wurde zwar nur ein kleiner Teil davon, aber wie Betreiber und die millionenschwer beteiligte Stadt hoffen, genug, um mit dem Auswanderer-Disneyland massiv Touristen aus den USA anzuziehen, die auf der Suche nach ihren Wurzeln sind.

Per Fahrrad oder Schiff sind es nur fünf Minuten zum Australiakai, Autos müssen einen Riesenumweg zum nächsten Zollposten nehmen. Hinter einem üppig wuchernden Fliedergebüsch taucht der Schuppen Nummer 50 auf. „Hafenmuseum im Aufbau“, steht am Kopfbau, und: „Schaumagazin“. Drinnen stapeln sich Säcke, Kisten, Fässer und Schilder. Eine Ahnung vom zukünftigen Museum vermittelt eine Reihe kleiner Schaukästen über – meist ausgestorbene – Hafenberufe: Hebestellenkontorist, Verschlagvice, Pansenklopper, Tallyman oder Waterclerk sind Stellenbeschreibungen aus der Ära des Stückgutumschlags, der längst der Containerisierung zum Opfer gefallen ist.

Draußen röhren Dampfmaschinen um die Wette: die historische Hafenbahn; ein Schutendampfsauger, an dem ein paar ältere Herren mit Hingabe pinseln und der Schwimmdampfkran „Saatsee“, der ganz gemächlich etwas aus dem Hafenbecken befördert. Es ist eine unförmige Figur aus rotem Gummi. Auf dem Steg stehen zwei Mann und pumpen Luft hinein. Zwei weitere schrauben ihr die Kupferglocke ab. Aus der historischen Taucherausrüstung steigt ein weißhaariger Mann mit dürren Beinchen in dick gerippten Strumpfhosen aus Naturwolle. „War das genug?“, frotzeln die Luftpumper. Der Alte nickt erschöpft. Sie alle sind Hafenenthusiasten. Den Schuppen und die Schiffe restaurieren sie ehrenamtlich, gemeinsam mit arbeitslosen Jugendlichen und 1-Euro-Jobbern.

Die Hafenwirtschaft von heute erschließt sich mit einem Panoramablick, wenn man am sechshundert Meter langen Schuppen entlang zur Kaispitze vorfährt: Über die bröckelnde Brüstung sieht man links Containerstapel von Hamburg Süd, Hanjin und Hapag Lloyd, rechts einen Autoverladekai. Im Hintergrund liegt die HafenCity, ein dicht gestaffeltes Bürohaus-Sammelsurium, zwischen der kürzlich eingelaufenen „Aida Diva“ am Kreuzfahrtterminal und dem massigen Kaispeicher A, der gerade zum Fundament für die neue Elbphilharmonie umgemodelt wird. Fast 120 Millionen Euro gibt die Stadt für dieses neue Wahrzeichen aus. Die Neuankömmlinge vom Meer weithin mit einer großen Geste zu begrüßen, will man sich was kosten lassen. Und über das Selbstverständnis der Hanse- als Seestadt wäre damit doch wohl auch alles gesagt, oder?

Eröffnung der BallinStadt: 4. Juli 2007 www.ballinstadt.de Bauausstellung: www.iba-hamburg.de Hafenmuseum: www.museum-der-arbeit.de/Hafen