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Frühe Entertainer

„Lautari“ werden die Familiendynastien der Roma-Musiker in Ungarn und Rumänien genannt: Einigen ihrer ersten Stars ist eine CD-Reihe gewidmet

VON CHRISTOPH WAGNER

Im 9. Jahrhundert, so sagt die Legende, verließen die Roma den Nordwesten Indiens, um nach Westen zu ziehen. Über den Iran und die Türkei gelangten sie in kleineren Trecks im 14. Jahrhundert nach Europa, wo sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe und pechschwarzem Haar Aufsehen erregten. Auf ihrem Weg nahmen sie allerhand Nützliches auf – neben Musikinstrumenten auch Rhythmen und Melodien, die sie weitertrugen. Ein Musikinstrument, das damals von vielen Roma gespielt wurde, war die Laute. Deshalb werden noch heute in Ungarn und Rumänien die Familiendynastien alter Romamusiker als „Lautari“ bezeichnet.

Die sogenannten „Magnaten- und Künstlerkapellen“ aus Ungarn und Rumänien gehörten – neben neapolitanischen Mandolinengruppen und alpenländischen Jodelgesellschaften – zu den ersten professionellen Musikensembles, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts ausgedehnte Gastspielreisen durch Europa unternahmen. Mit vier, fünf Geigern, Kontrabass und Hackbrett traten sie in Kur- und Seebädern, vornehmen Restaurants, großen Hotels und Music-Halls auf, wo sie die Zuhörer mit schluchzenden Weisen und atemberaubendem Fingerspiel verzückten. Im krassen Gegensatz dazu stand die Verachtung, die den Roma vielerorts entgegenschlug. Ihre Randstellung schürte Misstrauen und Argwohn, Pogrome und Verfolgungen waren die Folge. Im Bund mit Nazi-Deutschland ließ das faschistischen Regime Rumäniens während des Zweiten Weltkriegs 70.000 Roma verschleppen und im Todeslager von Transnistrien ermorden.

Heute leben über zwei Millionen Roma in Rumänien, und machen damit ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus. Bis heute werden sie als Menschen zweiter Klasse behandelt; ihre Situation ist prekär. Nationalistische Politiker hetzen gegen die „schwarze Pest“, und rassistische Attacken und Polizeiübergriffe sind keine Seltenheit. Der Triumph rumänischer Gypsy-Kapellen im Westen hat ihr Ansehen ein wenig gehoben. Blaskapellen wie die Fanfare Ciocarlia oder das „Lautari“-Ensemble der Taraf de Haidouks werden von Hollywoodstar Johnny Depp hofiert. Doch in Rumänien selbst hat sich ihre Situation nicht grundsätzlich verbessert.

Für die „Lautari“-Musiker aus den Vorstadtslums von Bukarest ist Musik so lebensnotwenig wie Essen und Trinken. Von klein auf lernt der Nachwuchs das musikalische Handwerk in der Familie, wo jeder virtuos ein Instrument beherrscht, aber niemand Noten lesen kann. Man lernt „mit den Ohren“. Die „Lautari“-Musiker treten mit ihren „Taraf“ genannten Gruppen zumeist bei Hochzeiten oder Kindstaufen auf: Festen, die oft tagelang dauern und die Musiker an den Rand physischer Erschöpfung bringen. Stunden um Stunden heizen sie mit schnellen, rhythmischen Tänzen wie Hora, Briu, Sirba und Geamparale den Festgästen ein.

Als „König der Hochzeitsmusiker“ galt in den Sechzigerjahren der Hackbrettvirtuose Toni Iordache, ein Jahrhunderttalent. Wenn er nicht als rumänischer „Exportschlager“ mit dem staatlichen Folklore-Ensemble im Westen auf Tournee war, brachte er bei Trauungsfeierlichkeiten mit seinen 25 Schlägen pro Sekunde die Stimmung zum Kochen. Wie es heißt, soll der weltberühmte Dirigent Sergiu Celibidache nach einem Auftritt von Iordache mit den Tränen gerungen haben, so rasant konnte dieser über die Stahlsaiten seines Hackbretts wirbeln.

Der Hackbrett-Akrobat Toni Iordache, der stets im weißen Smoking mit schwarze Fliege auftrat, ist auf dem vierten Album aus einer CD-Reihe zu hören, die das Berliner Label „Asphalt Tango“ herausgegeben wird. Die Serie präsentiert rare historische Aufnahmen berühmter Lautari-Musiker aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, die im Westen bisher kaum zugänglich waren. Außer auf seinem eigenen Album ist Iordache noch auf den Aufnahmen des Violinisten Ion Petre Stoican zu hören: Wie gewohnt, galoppiert sein Hackbrett leichtfüßig über die ungeraden Metren, während das Akkordeon mit eleganter Ornamentik verziert. Die beiden Instrumente bilden die ideale Grundlage für die arabesken Melodien der Geige, die in eindringlicher Manier spricht und weint.

Vielleicht hat Ion Petre Stoican ja versucht, mit seiner Violine den Gesang von Romica Puceanu nachzuahmen. Ihr unvergleichliches Stimmorgan ließ die füllige Vokalistin in den Sechzigerjahren zur Inkarnation der Lautari-Musik schlechthin aufsteigen. Ihre Spezialität waren Lieder von Liebe, Schmerz und Glück, die sie mit einfühlsamem Timbre umwerfend in Szene zu setzen verstand. Einschmeichelnd und samtweich klang ihr Gesang, ein Stil, der in ähnlicher Weise vom Sänger Dona Dumitru Siminica mit hoher Falsettstimme gepflegt wurde. Begleitet wurde Romica Puceanu, die im Aufnahmestudio nie ohne ihre randvoll mit Cognac gefüllte Teekanne aufkreuzte, von den Gore-Brüdern: zwei legendäre Gestalten an Geige und Akkordeon, die einer alten Musikerdynastie entstammen und die alten Taraf-Melodien noch in ihrer unpolierten Art zu spielen wussten.

Nach dem Ende des Kommunismus und dem Einbruch westlicher Popkultur ist die alte „Musica Lautareasca“ heute im Niedergang begriffen. Den Namen von Romica Puceanu – einst ein Star, der vom Volk verehrt wurde – kennt heute fast niemand mehr. Die Jugend tanzt nach anderen Rhythmen. Die Lautari-Musik wartet darauf, wieder entdeckt zu werden: als Inspirationsquelle für neue Stile.

In der Reihe „Sounds From a Bygone Age“ sind bislang Aufnahmen von Ion Petre Stoican, Romica Puceanu & The Gore Brothers, Dona Dumitru Siminica und Toni Iordache erschienen (alle Asphalt Tango)

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