piwik no script img

Kein Überlebenspunkt

Nach dem Unentschieden gegen Wolfsburg tendieren Aachens Chancen auf den Klassenerhalt gegen Null

Ein „furchtbarer Tag“ war es für Alemannia Aachens Präsident Horst Heinrichs, dem es „nur noch beschissen“ ging

BERLIN taz ■ Moses Sichone, Alemannias sambischer Stopper, umrundete nach dem Schlusspfiff wie ein geprügelter Hund das grüne Karree und warf traurige Kusshändchen ins Publikum. Reiner Plasshenrich, der seit Monaten verletzte Kapitän, stolperte auf seinen Krücken wie ein armseliges Klappergestell durch den Mittelkreis. Und Co-Trainer Erik Meijer nahm erst den heulenden Sascha Rösler in seine mächtigen Arme und drosch dann einen Ball mit wutverzerrter Mine und einer solch archaischen Kraft über die Tribünen, dass das Geschoss jetzt wahrscheinlich mit Uli Hoeness` Elfmeterball von 1976 eine gemeinsame Umlaufbahn bezogen hat. Währenddessen jubelten die Tivosi ihren gefallenen Helden zu, als sei soeben schon der Wiederaufstieg geschafft.

Man musste schon leibhaftiger Wolfsburger sein oder sonst wie im VW-Dunstkreis seine Apanage beziehen, um das Geschehen nicht als gemein zu empfinden. Der verdiente Sieger im ungleichen Duell Säbel und Leidenschaft gegen Florett und Feinfußstafetten schien festzustehen, da drehten die Gäste das Spiel mit den Mitteln der Heimelf: Erst Christopher Lambrechts Gewaltschuss aus dem Nichts (81. Minute), dann Diego Klimowiczens Hieb aus dem, so es das gäbe, Nichtser (86.). Der Argentinier raubte Aachen, was Laurentiu Reghecampf „die Überlebenspunkte“ nannte.

Das Fernduell am letzten Spieltag war geplatzt. Mit Wolfsburgs 3-Punkte- und 13-Tore-Vorsprung sind Aachens Chancen noch niedriger als Jan Schlaudraffs Aktionsradius zuletzt: nahe Null. Ein „furchtbarer Tag“ war es für Präsident Horst Heinrichs, dem es „nur noch beschissen“ ging. „Es wäre das perfekte Spiel gewesen“, stammelte Trainer Michael Frontzeck.

Andre Lenz, Wolfsburgs Zweittorwart, der lange Jahre in Aachen gehechtet war, erklärte sich auch „ein bisschen berührt“ vom Ausgang des hinreißenden Spiels, „die Atmosphäre hier und die Lieder, die alten Hymnen, toll, das war genau wie immer“. Lenz hat nur dieses eine Spiel erlebt – da schien der Tivoli tatsächlich zu bersten vor giftigem Grell und dann vor schierem Glück nach dem Doppelschlag von Matze Lehmann (62.) und Szilard Nemeth (68.), als hätte das alte Gemäuer alle Energie für dieses eine Spiel aufgespart.

Über die gesamte Saison war Aachens Bundesliga-Abenteuer mäßig mitreißend. Das Publikum: meist nörgelig und ungeduldig, bei acht Heimniederlagen und 37 Gegentoren auf dem Tivoli oft zu Recht gefrustet. Der falschgeborene Trainer (Mönchengladbach) nie akzeptiert. Die Führungsetage: im TGV-Tempo vom Volk entfremdet. Und im Fanforum pendelte die Stimmung zuletzt ins Sarkastische. Einer schimpfte darüber, dass Alex Klitzpera nach Rot in Frankfurt nur ein Spiel gesperrt wurde: „Ich hatte gedacht, jetzt wäre unsere Abwehr von einer potenziellen Fehlerquelle bis Saisonende befreit.“ Fazit: „Die wollen uns gar nicht in der 1. Liga. Fußballmafia DFB!“

Alemannia 06/07 war eine Mannschaft, der es vor allem in der brüchigen Defensive an Klasse fehlte. Bis Mitte März hielten sie sich mit Kampfkraft, mit tückischen Standards von Reghecampf, der Angst der Gegner vor Schlaudraffs (seltenen) Geniestreichen und einer hocheffizienten Chancenauswertung am Leben – bis die Angreifer ihre abzählbaren Gelegenheiten auch noch ausließen.

Zuletzt geriet auch Manager Jörg Schmadtke, lange wegen papstähnlicher Unfehlbarkeit gefeiert, in die Kritik, weil Transfers platzten, man ihm und Frontzeck Nibelungentreue nachsagte oder Schlaudraffs Suspendierung als falsch empfand. Plötzlich wurde die Schrulligkeit von „Mr. Cool“ sogar in „absoluten Egomanismus“ (Fanforum) umgedeutet. Und dann kamen noch Gerüchte über ein Wolfsburger Angebot auf, falls Aachen absteigt. Schmadtke ließ alles offen: „Analysieren“, lächelte er, „sollte man mit klarem Kopf.“ Womöglich hat am Ende doch noch ein Aachener die weinende Tivoli-Schüssel als Sieger verlassen.BERND MÜLLENDER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen