Die Überlebenden

Ausleuchten, was Menschen ertragen können: dem Dokumentarfilmer Hans-Dieter Grabe zum Siebzigsten

Zu welchen Bildern wird man im Jahr 2107 greifen, um zu verstehen, wie die Menschen im späten 20. Jahrhundert gelebt haben? Wie sie gedacht, gefühlt und sich an den mannigfachen Schrecken dieser Zeit erinnert haben? Wahrscheinlich werden sie ratlos auf die Bilderteppiche der Guido-Knopp-Fabrik schauen, aber dafür auf drei Dutzend Porträtfilme von Hans-Dieter Grabe stoßen.

Grabe, von 1962 bis 2002 Redakteur beim ZDF, zeigt oft Leute, denen Grausames widerfahren ist. Mendel Scheinfeld, der Auschwitz überlebte (in „Mendel lebt“). Do Sanh, der als Kind im Vietnamkrieg schwer verwundet wurde und damit zu leben versuchte. Oder in „Hiroshima – Atombombenopfer sagen aus“ einen Mann, der als Kind 1945 die Atombombe überlebte. Es sind dichte, berührende Filme, die Grenzbereiche dessen ausleuchten, was Menschen ertragen können. Und zeigen, was danach passiert. Es sind unspektakuläre Filme über Spektakuläres.

Grabe rückt uns diese Figuren nahe vor Augen, ohne musikalische Geschmacksverstärker und Infotainment-Ästhetik. Seine Filme zielen nicht auf Zerstreuung, sondern auf Konzentration. Sie vertrauen auf die Geschichten, die erzählt werden. Es sind oft Hörfilme, in denen das Wort ins Zentrum rückt und das Bild, der Blick auf Mimik und Gestik, das Gesagte interpretiert.

Wir haben uns angewöhnt, diese Form puristisch zu nennen. Aber das ist eigentlich falsch. Denn es geht nicht um Verzicht. Es geht darum, den Reichtum an Erfahrungen und Gefühlen zu entfalten. In diesen Filmen kann man unter anderem lernen, wie man Menschen inszeniert, die Opfer geworden sind – vorsichtig und genau, ohne Intimitätsverletzung und vordergründige Mitleidseffekte. Als Redakteur konnte Grabe ohne Aktualitäts- und Quotendruck arbeiten und Langzeitrecherechen produzieren. Er war ein Unikat.

Als er 2002 das ZDF verließ, war klar, dass man sich keinen festangestellten dokumentarischen Autorenfilmer mehr leisten würde. Vielleicht wird man sich 2107 wundern, warum es nach Grabe niemanden mehr gab, der Erzählfilme machte. Kontinuierlich und mit unverkennbarer Handschrift. Heute wird Hans-Dieter Grabe 70 Jahre alt. STEFAN REINECKE