Wo Fuchs und Hase

Begnadigungsversuche

Seitdem der Hase ihrer beiden älteren Töchter den jüngsten Sohn meiner Freundin biss, muss der Hase ein armes Dasein fristen. Er lebt jetzt im Treppenhaus in einem Käfig.

„Campina“, sage ich zu dem Hasen, denn so heißt er, „heute werde ich dich begnadigen!“ Leider zeigt Campina wenig Reue, im Gegenteil, sie dreht mir sogar ihr Hinterteil zu. Das liegt sicherlich an der Isolationshaft, denke ich und nehme einfach den Käfig mit in den Garten. Meine Freundin sitzt schon mit Sohn Karli dort. „Hoffentlich gibt das keine Minuspunkte in unserer langjährigen Freundschaft!“, sage ich zu ihr und öffne die Käfigtür. Campina hoppelt gleich im Gras herum. Meine Freundin löst ihre verschränkten Oberarme von der Brust, ein Zeichen, dass alles gut wird. Auch zwischen Täter und Opfer scheint es eine erste Annäherung zu geben, Karli läuft hinter Campina her, bleibt plötzlich stehen und ruft: „Fuchs, Fuchs!“

„Nein“, erklärt ihm seine Mutter, „Hase, Karli, nicht Fuchs, das ist ein Hase, und er hat dich ganz lieb!“ Doch Karli sagt immer wieder „Fuchs“ und fängt an zu weinen. Endlich sehen wir ihn auch, einen lebendigen Fuchs. Am Ende des Gartens läuft er so geschäftig herum, als hätte er kein Zeitfenster offen. Dann beginnt der ungleiche Kampf der Stadtmenschen gegen den Fuchs um die Beute. Uns fällt nichts anderes ein, als zu schreien, das aber beeindruckt den Fuchs wenig. Er kommt näher auf den Hasen zu. Meine Freundin rennt Campina nach, erwischt das Haken schlagende Tier aber nicht. Und ich schaffe es nicht einmal, den Fuchs wegzuscheuchen. Schon hat er den Hasen am Genick und zieht ihn durch ein Loch im Zaun. Das habe ich nun von meinen Begnadigungsversuchen.

JUTTA RAULWING