Algerien im Schatten des eigenen Booms

Kurz vor den Parlamentswahlen ist das Vertrauen der Algerier in ihre politische Klasse gering. Denn nach dem Bürgerkrieg blüht die Wirtschaft – aber kaum etwas davon kommt bei den Menschen an. Immer öfter entlädt sich spontaner Protest

AUS ALGIER REINER WANDLER

Schwarzer Rauch steigt in den Himmel. Der beißende Geruch von verbranntem Gummi liegt in der Luft. Ein Stau bildet sich auf der Autobahn von Tizi Ouzou nach Algier. Die Fahrer steigen aus und schauen erstaunt auf die Barrikade aus brennenden Autoreifen. Die Gendarmerie hat einen kleinen Haufen von protestierenden Jugendlichen umstellt. „Vor einer Stunde wurde hier ein 15-jähriges Mädchen totgefahren“, erklärt einer der Protestierenden. Seit Jahren habe die Regionalregierung einen Fußgängerübergang versprochen. Gebaut wurde er nie.

„Unruhen wie diese sind in Algerien an der Tagesordnung“, erklärt Karim Balou, der 40-jährige Sprecher der Oppositionspartei Front der Sozialistischen Kräfte (FFS). Als Anlass kann alles dienen: Probleme bei der Wohnungsvergabe, ein Polizeiübergriff. „Die Menschen haben die Nase voll. Immer mehr Leute fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.“

Dabei sieht es zumindest in den großen Städten so aus, als ob es mit Algerien – nach zehn Jahren Bürgerkrieg mit 200.000 Toten – wieder aufwärts ginge. Die meisten bewaffneten Islamisten haben das Angebot auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft angenommen. Überall wird gebaut. In Algier empfängt ein neuer Flughafen die Gäste. Die U-Bahn steht nach über 20 Jahren Bau vor der Fertigstellung. Verwaltungsgebäude, Wohnblocks, Straßentunnel entstehen. Steigende Öl- und Gaseinnahmen haben die Staatskassen gefüllt.

Auf den Veranstaltungen der Regierungspartei vor den Parlamentswahlen am Donnerstag ist von Modernisierung die Rede. Diversifizierung der Wirtschaft, Abbau der Arbeitslosigkeit versprechen die Politiker der früheren Einheitspartei FLN (Nationale Befreiungsfront), die in Koalition mit ihrer Abspaltung RND (Nationale Sammlung für Demokratie) und den gemäßigten Islamisten von MSP-Hamas regiert.

„Alles Blabla“, winkt Mohammed ab, Inhaber eines kleinen Pharmaunternehmens in Algier. „Das nimmt ihnen längst keiner mehr ab. In Wirklichkeit hat sich nicht viel geändert. Der Erdölsektor boomt, der Lebensmittelsektor und die kleine Gastronomie wächst, aber die restliche Wirtschaft hat zu kämpfen wie eh und je.“ Die leeren Wahlkampfveranstaltungen geben ihm recht. „Basarwirtschaft“ nennt Mohammed das, was in Algerien passiert. Immer mehr Menschen leben vom Handel mit illegalen Importen. Produktion findet in Algerien nur noch wenig statt. Dafür kommen internationale Supermarktketten nach Algier. Für die Reichen gibt es nahe dem Villenstadtteil Hydra eine schicke Einkaufsstraße mit Markentextilien aus Europa und den USA. „Der schnelle Konsum blüht, aber das ist auch schon alles“, urteilt Mohammed.

Ein Blick auf die Statistiken gibt dem Kleinunternehmer recht. Die Preise bei vielen Produkten liegen auf europäischem Niveau. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei knapp 16 Prozent, tatsächlich dürfte sie bei weit über 20 Prozent liegen. Die Armut nimmt zu, selbst in der Innenstadt von Algier leben immer mehr Kinder auf der Straße. „An der Arbeitslosigkeit haben auch die großen Bauprojekte nichts geändert“, berichtet Mohammed. Denn diese werden nicht etwa von algerischen Arbeitern ausgeführt, sondern von chinesischen Unternehmen, die ihre Belegschaft mitbringen. Algerien schützt seinen eigenen Markt nicht. Auch Mohammed bekommt das zu spüren. Das algerische Gesundheitsministerium deckt sich ebenfalls in China ein.

„Wir leben in einem reichen Land. Aber unten kommt davon nichts an“, beschwert sich auch Ali Lemdani. Der 55-jährige Gymnasiallehrer für Deutsch ist im Vorstand der unabhängigen Lehrergewerkschaft Cnapest. „200 Euro verdient ein Lehrer im Monat“, erklärt er – in Relation zur Kaufkraft ein Viertel des Niveaus vor zwanzig Jahren.

Unabhängige Gewerkschaften wie Cnapest haben Zulauf. Ständig kommt es zu Streiks für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Lemdani muss wegen seines gewerkschaftlichen Engagements am 17. Juni zusammen mit fünf Kollegen vor den Richter. „Illegaler Ausstand, verbotene Versammlungen und Mitgliedschaft in einer nicht genehmigten Organisation“ wird ihnen vorgeworfen.

Als Gymnasiallehrer ist Lemdani sehr besorgt. „Alle wollen weg. Wir hätten genug Leute, um das Land zu entwickeln: Ingenieure, Wissenschaftler, Professoren, aber auch gute Landwirte. Dennoch leben große Teile der Bevölkerung in Armut. Die Politik unserer Regierung ist ein einziges Fiasko.“ Auch er beobachtet Wahlmüdigkeit: „Das ist logisch. Wenn du ständig lügst, hört man irgendwann auf, dir zuzuhören.“