Die Lehrstunde

In Stuttgart trifft man sich jetzt auf dem Marktplatz zur Volksversammlung. Die erste Runde mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann war ein vernünftiger Anfang

von Josef-Otto Freudenreich

Von einer Sternstunde der Demokratie sprechen Leitartikler gerne, wenn im Parlament kluge Reden gehalten werden. Manchmal passiert das tatsächlich. Was aber ist es, wenn das Volk, nicht seine Vertretung, auf dem Marktplatz steht, gute Fragen stellt und vernünftige Antworten bekommt? Dann ist es eine Volksversammlung mit dem Ministerpräsidenten. Eine Lehrstunde der Demokratie. Auch damit hat Stuttgart ein neues Kapitel im Buch der Einmischbürger aufgeschlagen. Den 1. Juni 2011 wird man sich merken müssen.

Natürlich ging es um den Bahnhof. Um Baustopp und Stresstest, aber letztlich ging es doch wieder um die Frage, die Stuttgart 21 von Anfang an geprägt hat: Was ist Lüge, und was ist Wahrheit? Dazwischen hat sich der Dagegen- und der Dafür-Bürger bewegt, mehr oder weniger aufgeregt, und sich über die Zeit einen Kanon von Argumenten zurechtgelegt, dem eine gewisse Hermetik zu eigen ist. Weniger freundlich ausgedrückt, könnte man auch von Sektiererei in der Sackgasse reden.

Winfried Kretschmann hat versucht, sie aufzubrechen. Er hat seine eigene Vergangenheit bemüht, die Studentenzeit beim Kommunistischen Bund Westdeutschland, als sie hinter Mao hergeschwommen und an der Wand angekommen sind. Seitdem ist für ihn Politik keine Frage der Wahrheit, sondern der Freiheit. Das hört sich zunächst ziemlich beliebig an, da abhängig von der Definition und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch Kretschmanns Politik ist kein herrschaftsfreier Diskurs, der die Herren Grube und Ramsauer ausklammern kann. Aber sie ist allemal besser als politökonomisch verordnete Wahrheiten, die in Gestalt von Gesetzestafeln vorgezeigt werden, wonach S 21alternativlos und unumkehrbar sei.

Kretschmann ist so frei, die Abwesenheit von Denkverboten und Dogmen zu fordern, die einen Dialog so schwierig machen, die Positionen einbetonieren und nur noch mit der „Wahrheit“ zu vereinbaren sind, die einem passende Experten vermitteln. Das kann nicht gut gehen, weil solche Ikonen der Selbstbestätigung gerne zu Instanzen erhoben werden, die nicht mehr hinterfragbar sind. Auch sie müssen runter vom Sockel, damit ein offener Streit wieder möglich wird.

Die Kontext:Wochenzeitung hat dazu in der vergangenen Ausgabe einen Artikel („Der Widerstand – im Kern gespalten“) veröffentlicht, dem diese Absicht zugrunde lag. Er sollte durchsichtig machen, welche Konflikte die S-21-Gegner seit Monaten haben und versuchen unter der Decke zu halten. Doch diese Geheimniskrämerei, stets im Dienste der Sache, versteht sich, nagt an der Glaubwürdigkeit des Protests, verschärft das Lagerdenken und ist das Gegenteil dessen, was sich die Bewegung auf die Fahnen geschrieben hat: gelebte Basisdemokratie.

Der Artikel ist breit diskutiert worden. Klar gab es herbe Kritik. Das muss sein. Aber viel war auch vom Aufeinanderzugehen, vom Spannungen-Aushalten, von Toleranz und von einer neuen Offenheit die Rede. Das deutet darauf hin, dass sich die Kombattanten die Freiheit genommen haben, über den Ernst der Lage nachzudenken. Dass sich das Aktionsbündnis und die Parkschützer nun zu gemeinsamen Gesprächen gefunden haben, passt dazu.