Liebe trennt Liebende durch Liebe

Die Kluft, ohne die es nicht geht: Ob im Film, als Regisseur für das Theater oder als Performer – die Arbeit von Patrice Chéreau kreist immer wieder um die Balance von Nähe und Distanz, Text und Körper. Mit einer Hommage an den Regisseur begann in Berlin ein Festival französischer Theatermacher

VON ANNE KRAUME

Einmal, nicht lange vor ihrem Tod, da besuchte er seine über 90-jährige Mutter im Altersheim. Sie war Malerin und zeigte ihm eine ihrer neuesten Zeichnungen: „Siehst du, allmählich werde ich wirklich besser, glaube ich!“ Als Patrice Chéreau diese Anekdote am Sonntagvormittag in der Berliner Akademie der Künste gegen Ende eines Gesprächs über sich und seine Arbeit erzählt, da muss er keine langen Erklärungen mehr anfügen, worum es ihm bei der kurzen Geschichte von seiner Mutter zu tun ist: „Ich bin ihr sehr ähnlich – auch für mich gibt es noch so viel, was ich lernen muss und möchte!“

Chéreaus sonntägliches Bekenntnis zum lebenslangen Lernen bildete den Abschluss einer Hommage der Akademie der Künste für den französischen Theater-, Film- und Opernregisseur, der seit 2003 Mitglied der Akademie ist. Zwei Wochen lang waren an den beiden Akademiestandorten, im Hanseatenweg und am Pariser Platz, eine Reihe von Filmen von Chéreau gezeigt worden – Spielfilme ebenso wie Verfilmungen seiner Operninszenierungen und Theaterstücke. Tags zuvor, am Samstag, hatte man ihn schließlich zudem live als Akteur auf der Bühne erleben können, wo er in einer szenischen Lesung Passagen aus den tagebuchartigen Schriften des 1991 an Aids verstorbenen Autors Hervé Guibert präsentierte, mit dem er eng befreundet gewesen ist. Zugleich war dies der Auftakt des Festivals France en Scène in Berlin.

„Le mausolée des amants“ hieß dieser Abend, „Das Mausoleum der Liebenden“ – dieser Titel ist ein Zitat aus einem der Texte von Guibert und deutet mit seiner impliziten Frage nach der Möglichkeit von Dauer in der Liebe auf ein Thema, das bei Chéreau immer wieder eine Rolle spielt. Zum Beispiel in seinem Film „Intimacy“, mit dem er für Aufsehen sorge und für den er bei der Berlinale 2001 den Goldenen Bären bekommen hat. Chéreau gehe immer von der Kluft aus, durch die alle Liebenden trotz oder gerade wegen ihrer Liebe getrennt seien, und für ihn betreffe die Frage nach den Möglichkeiten einer zumindest zeitweiligen Überbrückung dieser Kluft die ganze Spanne zwischen Glück und Unglück des Menschen, betonte Ivan Nagel in seiner kurzen Einführung in Chéreaus Werk.

Und tatsächlich – die Richtigkeit dieser These lässt sich an Filmen wie „Intimacy“ ebenso aufweisen wie an Chéreaus jüngster Theaterarbeit, einer Inszenierung von Jean Racines „Phèdre“ aus dem Jahr 2003. „Intimacy“ erzählt die Geschichte eines Paares, das sich regelmäßig in einer schäbigen Wohnung zum leidenschaftlichen Sex zusammenfindet und danach nahezu wortlos wieder auseinandergeht – so lange, bis der Mann beginnt, die Distanz zwischen sich selbst und der unbekannten Frau überwinden zu wollen, und damit schließlich die Aura der Anonymität zerstört, die beide bisher verbunden hatte.

Auch in Chéreaus Racine-Inszenierung wird deutlich, wie sehr die Zerstörungskraft der schuldhaften Liebe Phädras zu ihrem Stiefsohn Hippolyt gerade aus der fehlenden Distanz resultiert, die für diese Liebe kennzeichnend ist. Chéreau betont die unheilvolle Nähe der Liebes- und Verwandtschaftsverbindungen um Phädra und Hippolyt immer wieder auf geradezu körperliche Art und Weise, wenn er seine Schauspieler einander auf einer sehr tiefen Bühne umkreisen lässt und sie dabei trotz der Offenheit dieses Raumes keinerlei Möglichkeit haben, tatsächlich Abstand voneinander zu gewinnen.

Dass sein Zugang zu seinen Stücken und Themen immer, so wie hier, ein sowohl körperlicher als auch textueller sei, das betont Chéreau denn auch ausdrücklich: „Im Französischen gibt es das Wort ‚incarner‘ – also „verkörpern“ in einem sehr wörtlichen Sinne. Darum geht es mir, wenn ich versuche, mit einem Schauspieler einen Charakter zu erarbeiten. Aber die Möglichkeiten dieser Verkörperung, die liegen alle unmittelbar im Text, und von dort kommend müssen sie erschlossen werden.“

Körper und Text – diese beiden Elemente waren es auch, die Chéreaus Leseperformance am Samstag in der Schaubühne so eindrucksvoll machten. Denn dort war die Bühne fast leer – bis auf einen langen Tisch, den Chéreau und sein Partner Philippe Calvario umkreisten, und bis auf die runden Lichtkreise, in die sie abwechselnd traten, um ihren Text zu sprechen. Und dabei war es eben genau das Zusammenspiel von Chéreaus sparsamen Bewegungen und Hervé Guiberts ausdrucksstarkem Text, das diesen vom ersten Wort an lebendig werden ließ. Kaum Aktion über anderthalb Stunden hinweg, aber stattdessen eine ungeheure Präsenz, die sich in Chéreaus Stimme am deutlichsten Ausdruck verschaffte: Denn der Kontrast zwischen deren allmählichem Brüchigwerden an den Stellen des Textes, an denen das Ich seiner Aidserkrankung immer unmittelbarer ausgesetzt ist, und einer trotzdem niemals ganz versiegenden leisen Ironie in der Diktion scheint exemplarisch für Chéreaus ständige Pendelbewegungen zwischen Nähe und Distanz.

Chéreau sagt, er habe keine klare Definition von seinem Beruf – es gehe ihm einfach darum, Geschichten zu erzählen, und das im Kino ebenso wie im Theater und in der Oper. Alle drei Bereiche seien unterschiedlich und müssten es auch bleiben – aber seine Tätigkeit sei letztlich dieselbe, ob er nun an einer Inszenierung von Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ arbeitet wie augenblicklich gerade in Wien oder an einem neuen Film: „Alles ist gut, wobei ich etwas lernen kann und wobei ich mich verändern und weiterentwickeln kann!“ Patrice Chéreau hat wohl recht, wenn er sagt, er sei seiner Mutter sehr ähnlich.