Ökonomie auf Crack

THEATER Frank Castorf setzt Dostojewskis „Spieler“ bei den Wiener Festwochen in Szene – mit Lust am Genre und erstaunlicher Gedankenschärfe

„Du bist nicht Mick Jagger“, kanzelt eine mal Deutsch, mal Russisch, mal Französisch parlierende Schönheit (Margarita Breitkreiz) ihre Verehrer ab. Geld haben genügt nicht, man muss es auch verbrennen können. Frank Castorfs Wiener Erkundungen zu Dostojewskis „Der Spieler“ und zur gegenwärtigen Kasino-Ökonomie begleitet eine der vielleicht schönsten Geldmach- und Geldverbrennungsmaschinen des späten 20. Jahrhunderts: Die Klänge der frühen Stones-Ära bis „Exile on Main Street“ kommen der Gestimmtheit des Dostojewski-Universums erstaunlich nahe.

„Der Spieler“ liest sich rückschauend wie eine politische Ökonomie auf Crack, in der sich alles um den leeren Anfangsgrund dreht. Wie kommt es, dass es auf der Welt ohne Ansehen der Person und beinahe ohne Ansehen des Geschlechts nur zwei Sorten Mensch gibt: Jene, die besitzen, und jene, die ihre eigene Haut zum Markte tragen? Bernd Neumanns Bühnenprojektionsapparatur steigert diese Frage in den panikgeweiteten Augen des Ich-Erzählers (Alexander Scheer) ins Überlebensgroße. Aufzuholen ist dieser Vorsprung nicht, jedenfalls nicht mit „deutschen Tugenden“, wie Castorf die Ermahnungen der klassischen Nationalökonomie zu Fleiß und Sparsamkeit nennt. So wird der Rouletttisch zum Sehnsuchtsort und der Todeswunsch für die Erbtante zum einzig verlässlichen Strang der Familienbande. Die Kugel verspricht Umverteilung, die wechselseitige, einvernehmlicher Beraubung nach dem Zufallsprinzip, das irgendwie gerechter erscheint als alle je dagewesenen Verhältnisse auf Erden. Nur verlegt sich auch die Erbtante aufs Zocken, sie gewinnt und verliert zum Schrecken aller alles. Sophie Rois zelebriert auf dem Rouletttisch ein virtuoses Hochamt ums Geld, samt seiner verbotenen Wandlung in Genuss.

Ohne Nation, Religion, Tugend und Familie bleibt vom lächerlichen Treiben bürgerlicher Selbsterhaltung nur die Farce. So unbekümmert und formbewusst zugleich griff Castorf selten in den Fetteimer des Genres. Tapetentüren knallen, und das Ensemble verfertigt selbstreferentiellen Kartoffelsalat. Krokodil verschlingt Mann und schafft arbeitsrechtliche Probleme.

Aus dem Wiener Sommer ist eine gedankenscharfe wie erstaunlich gelassene Arbeit zu vermelden. Selbst Castorfs Unbehagen am affirmativen Kern jeder Kunstäußerung hält sich diesmal in Grenzen. Die Hofratswitwen schlägt erst die letzte der fünf Aufführungsstunden in die Flucht. Volksbühnen-Krise? In Wien ein Triumph. UWE MATTHEISS