Papa und andere Sorgen

Dialoge und Deutungsgehalte: Gregor Sander steckt in seinen Vater-und-Sohn-Roman „abwesend“ viel hinein. Vielleicht zu viel?

Wenn eine Mutter ihrem Sohn zutraut, dass er den eigenen Vater umbringt, ist das ein starkes Stück. Wenn ein Roman, der so einsetzt, nichts folgen lässt, was diese Szene plausibel macht, ist das vor allem ärgerlich. Zwar fährt Gregor Sander bis zum Ende seines gerade 150 Seiten umfassenden Debütromans „abwesend“ thematisch so einiges auf – deutsche Vergangenheiten, Alltagsprobleme wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Erwachsenwerden und eine Vater-Sohn-Beziehung –, doch die Entwicklung des Romangeschehens findet letztendlich keinen Anschluss an seinen reißerischen Beginn.

Die Geschichte geht so: Christoph Radtke, ein Architekt Anfang dreißig in Berlin Prenzlauer Berg, wird von seiner Mutter ins Elternhaus nach Schwerin einbestellt. Er soll seinem Vater, der im Wachkoma liegt, Gesellschaft leisten, während sie zwei Wochen Urlaub auf Lanzarote macht. Zu pflegen braucht Christoph den Kranken nicht, dafür hat seine Mutter die schöne, abgebrühte Bulgarin Kristina engagiert. Christoph reist unwillig an. Sein Leben ist schon kompliziert genug. Die Trennung von seiner Freundin Susanne im Vorjahr macht ihm ebenso zu schaffen wie die fristlose Entlassung aus dem Architekturbüro. So meidet er das Krankenzimmer und versenkt sich in die Analyse der eigenen Sorgen, durchmischt mit Erinnerungen an die Jugend in der DDR. Die träge Nabelschau am elterlichen Swimming Pool wird durch einen Brief aus der Schweiz gestört, aus dem hervorgeht, dass sein Vater einst auf Geschäftsreisen einen Seitensprung mit Folgen hatte. Christoph bricht umgehend nach Zürich auf, um die Absenderin des Briefs zur Rede zu stellen.

Problematisch ist bei alledem nicht nur, dass das Ende den Anfang nicht einholt oder dass die Dialoge zum Teil allzu offenkundig dazu verwendet werden, einen bestimmten Deutungsgehalt zu transportieren, oder der dahinplätschernde Tonfall, in dem Inhalte lediglich konstatiert werden. Denn Gregor Sander, der 2002 den Erzählband „Ich aber bin hier geboren“ schrieb, ist durchaus versiert in der Handhabung von Motiv, Metapher und Handlungsaufbau. So sind auch in seinem neuen Buch viele Details ordentlich gearbeitet, etwa der Einsatz des Tanzmotivs, welches das Scheitern von Christophs Beziehung zu Susanne begleitet.

Die Frage ist vielmehr, ob man überhaupt so viel in einen so schmalen Band hineinpacken muss. Muss man nicht. Denn so bleibt wenig Raum für Nuancen. Alles wird verknappt und kommt der LeserIn irgendwie bekannt vor. Der abwesende Vater, an dem Christoph sich abarbeitet: die Inkarnation schweigend selbstgenügsamer Männlichkeit. Wilhelm Radtke, der andere nicht an seinem Leben teilhaben lässt, fügt durch seinen Rückzug den eigenen Kindern emotionales Leid zu. Überdeutlich formuliert der Roman die Botschaft, dass es nicht gut ist, wenn Nahestehende nicht richtig miteinander sprechen, wobei zugleich eingeräumt wird, dass das auch nicht immer leicht ist.

Wie schon in seinen Kurzgeschichten sympathisiert Sander mit Figuren, die sich mit der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten schwer tun. Während Wilhelm Radtke seine beruflichen Chancen als Professor für Bauingenieurwesen durch die Bedingungen in der DDR gekappt sah, reflektiert Christoph mehrfach Momente, in denen es darum ging, sich etwas zuzutrauen, sei es beim Protest im Herbst 1989 oder der Gestaltung von persönlicher Zukunft. Gedanken dieser Art sind der Mutter fremd. Sie ist eine patente Person, die ihrem Gatten schon vor dessen Schlaganfall „das Leben abnahm“ bzw. „die Welt von ihm fernhielt“.

Genauso wenig subtil wie diese Komplementarität in der Charakterzeichnung ist die Gewichtung der Schweizreise. Sie ist natürlich nicht bloß eine Fahrt in andere Gefilde, sondern symbolisiert Christophs Reise zum Vater und zu sich selbst. Das gedämpfte Happy End besteht darin, dass der Sohn, zurück in Schwerin, am Krankenbett ausführlich mit dem Vater spricht. Ob dieser ihn verstehen kann, ist ungewiss. Aber Hauptsache Austausch und Nähe. Man hat immer das Gefühl, von all dem woanders schon mal gelesen zu haben. Und zwar besser. ANTJE KORSMEIER

Gregor Sander: „abwesend“. Wallstein, Göttingen 2007, 156 Seiten, 16 Euro