London verspielt Kolonie

Eine Schrebergartenkolonie wehrt sich gegen die Vertreibung durch Olympia 2012

VON OLIVER POHLISCH (Text und Fotos)

Auch diesen Frühling schiebt Adile Kose täglich einen Werkzeug und Proviant vollgepackten Kinderwagen an Schrottplätzen und Müllentsorgungsanlagen vorbei. Das Ziel ist ihr Schrebergarten. Die kleine Frau mit dem runden, freundlichen Gesicht ist als 20-jährige aus der türkischen Provinz nach London gekommen. Sie landete im elften Stock eines Sozialbauwohnblocks und hat sich schließlich mitten im rauen, vom Niedergang der Industrieproduktion gezeichneten Osten der Stadt ein Stück Heimat geschaffen. Ein paar Quadratmeter, auf denen sie mit Hingabe pflanzt und bewässert, was ihr aus den Gärten ihrer Kindheit vertraut ist.

Die Laubenkolonie Manor Garden, in der sich Adiles Grundstück befindet, ist ein wahrhaft verstecktes Kleinod. Wer es aufsuchen will, muss zwischen einem Depot für Doppeldeckerbusse und einem Lebensmittelzulieferer hindurch und eine Brücke über den Lea passieren, den größten Zufluss der Themse im Stadtgebiet. Die Gärten thronen auf einer ehemaligen Müllkippe, nur wenige Meilen von den Schaltstellen der globalen Finanzströme entfernt. Die Bürotürme der City sind von hier aus zu sehen. Der unternehmerische Furor, der dort herrscht, scheint jedoch Lichtjahre von der zeitlosen Beschaulichkeit der Gärten entfernt.

Adile weiß nicht, ob sie die Bohnen, die sie Anfang März gesetzt hat überhaupt ernten können wird. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass ihre Laube noch nicht das Opfer von Planierraupen geworden ist, wie das benachbarte Land. Dort werden jetzt Löcher in den Boden gebohrt, um Zusammensetzung und Stärke des toxischen Materials zu ermitteln, das als gefährliches Erbe der industriellen Vergangenheit dieser Gegend tief in der Erde vergraben liegt. Das Gelände muss entgiftet werden, damit die Bauarbeiten beginnen können – für die Olympiade 2012, für die London vor zwei Jahren vom IOC den Zuschlag erhalten hat.

Die Bewerbung der Themse-Metropole fand nicht zuletzt deshalb Gnade bei den Funktionären des Internationalen Olympischen Komitees, weil Londons Bürgermeister Ken Livingstone mit der Einbettung der Spiele in ein langfristiges Stadterneuerungsprogramm um ihre Stimmen warb. Livingstone schwebt so etwas wie die Neuauflage der Olympiade von 1992 in Barcelona vor. Diese Spiele waren in den Augen vieler eine perfekte Symbiose aus sportlichem Wettkampf und der Wiederauferstehung städtischen Lebens nach einer Phase sozialer und wirtschaftlicher Stagnation. Nun soll das Spektakel dafür sorgen, dass auch aus Londons Osten eine blühende Landschaft wird, denn hier ist die Armut groß und seine Arbeitslosenrate ist die höchste Großbritanniens. Viele, oft aus Asien, Afrika und der Karibik eingewanderte BewohnerInnen des Ostens sind nur gering qualifiziert und rackern ohne Aufstiegschancen in Niedriglohnjobs. In Hackney, das im Nordosten an den zukünftigen Olympiapark grenzt, leben 35 Prozent der Bevölkerung in überbelegten, schlecht ausgestatteten Wohnungen. Und, obwohl es hier doch kaum etwas zu holen gibt, werden in keinem anderen Londoner Bezirk so viele Einbrüche begangen. In diesem Szenario urbaner Deprivation, so hofft Livingstone, sollen die Spiele ein wahres Feuerwerk an Investitionen in die Infrastruktur, den Wohnungsbau und den Arbeitsmarkt entfachen. Eins, das noch sprüht, wenn die Profisportler das Olympiastadion und alle anderen Wettkampfstätten, die in den nächsten fünf Jahren rund um den Lea hochgezogen werden, wieder verlassen haben.

Dass dafür aber etwas zerstört werden soll, was schon seit langem blüht, trifft auf das völlige Unverständnis der Schrebergärtner. Kurz nach dem ersten Weltkrieg ließ der philanthropisch gesinnte Grundbesitzer und Bankdirektor Major Arthur Viliers, ein Freund Winston Churchills, die Müllkippe mit Schlick aus dem Lea abdecken und vermachte sie den Arbeitern des East End zur Begrünung, damit diese nach Feierabend dem Lärm, der Hitze und dem Gestank der nahen Fabriken entfliehen konnten. Die Ältesten der heutigen Pächter von Manor Garden können sich noch gut daran erinnern, wie Viliers manches Mal auf ein Schwätzchen in die Kolonie geradelt kam. Die Kolonie hat den Bombenhagel der deutschen Luftwaffe auf die Ostlondoner Chemiebetriebe und Werften im Zweiten Weltkrieg überstanden und war in der Nachkriegszeit unerlässlich für die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit frischem Obst und Gemüse. Heute lässt sich in fast jedem Garten eine wilde Mischung von Gewächsen einheimischer und exotischer Herkunft finden. Diese Vielfalt spiegelt wider, dass Manor Garden über die vergangenen drei Dekaden zum exemplarischen Treffpunkt von Menschen verschiedenster Herkunft geworden ist. LondonerInnen mit Wurzeln in Zypern, Jamaika oder Yorkshire tauschen Samen und Setzlinge von Salat, Feigen- oder Avocadobäumen aus und beraten einander beim Anbau.

Am 2. April hätten die Pächter Manor Garden räumen müssen. „Nicht etwa weil hier eine Sporthalle hinkommen soll, sondern nur, weil wir einer Fußgängerverbindung von A nach B im Wege sind, die lediglich für vier Wochen existieren wird“, erzürnt sich Julie Sumner, die dem Vorstand der Kolonie angehört und dort seit 12 Jahren ihren Garten hat. Der Vorschlag, die Passage um Manor Garden herumzuführen und die Kolonie ins olympische Geschehen zu integrieren, wird vor allem mit Sicherheitsbedenken gekontert. So äußerte Livingstone die Befürchtung, ein Terrorist könne, als Gärtner getarnt, eine Bombe in der Kolonie legen. Sumner vermutet jedoch, es sei für die Olympiaplaner vor allem undenkbar, dass sich inmitten einer am Computer generierten, aseptischen Parkfläche eine Ansammlung selbstgezimmerter Hütten als gallisches Dorf behaupten könne. Die Gärtner haben den Aufschub der Räumung um drei Monate der Kampagne zu verdanken, die sie für ihren Verbleib initiiert haben – und dem politischen Wind, der Livingstone und seiner Labour Party derzeit kräftig ins Gesicht bläst.

Jüngst musste Kultur- und Sportministerin Tessa Jowell vor dem britischen Unterhaus zugeben, dass die Kosten für die Spiele auf mehr als das Dreifache der ursprünglich veranschlagten Summe von umgerechnet rund 3,4 Milliarden Euro angestiegen sind. Diese Fehlschätzung bietet der konservativen Opposition einen willkommenen Anlass, der äußerst unpopulären Labour-Regierung am Ende der Amtszeit von Tony Blair einmal mehr vorzuwerfen, sie habe abgewirtschaftet. Noch wirksamer ist es aber, Labour auf lokaler Ebene die Spiele zu verderben. Die Schrebergärtner sollten im Stadtbezirk Waltham Forest eine Ausweichfläche für den Verlust von Manor Garden erhalten. In der Bezirksversammlung gelang es den Konservativen, die mit Labour regierenden Liberaldemokraten auf ihre Seite zu ziehen und gegen die Umwidmung des in Frage kommenden Geländes zu stimmen. Damit kamen die Räumfahrzeuge zum Stehen. Die Gärtner vom Lea-Ufer halten das Areal sowieso für ungeeignet, würden ihnen doch dort weniger und deutlich kleinere Grundstücke zugebilligt. „Es soll uns außerdem nur sieben Jahre zur Verfügung stehen, danach müssten wir wieder zurück in den Olympiapark; aber an eine andere Stelle als die jetzige. Ein mehrfacher Umzug wird unseren Zusammenhang gefährden. Außerdem braucht es mindestens zwei Jahrzehnte, damit wir an einem neuen Platz auf ähnliche Ernteerträge kommen, wie wir sie jetzt erzielen“, sagt Julie Sumner.

Sumner führt den Widerstand der Gärtner an. Sie und ihre Mitstreiter nutzen die Gnadenfrist, um den Kampf für den Erhalt der Kolonie auszuweiten. „Lassen uns die Olympiaplaner an Ort und Stelle, könnten sie beweisen, wie ernst sie es meinen mit ihrem Anspruch, die ‚grünsten Spiele‘ der Geschichte ausrichten zu wollen“, so Sumner. Die Gärtner haben ein Konzept vorgelegt, in dem Manor Garden mit Outdoor-Restaurant, Lerngarten und Kleintierzoo am Stadterneuerungsprozess beteiligt wäre. In einem Land, in dem der eigene Garten gerne zum sakralen Ort stilisiert wird, können sich die widerständigen Gärtner einiger Sympathien sicher sein. In den letzten Monaten haben sie im Internet mehr als 7.800 Unterschriften für eine Petition an Blair gesammelt. Sie zogen mit Plakaten vor das Londoner Rathaus und vor Bürgerhäuser, in denen Vertreter der für die Ausrichtung der Spiele zuständigen Behörde Olympic Delivery Authority (ODA) der Öffentlichkeit ihre Pläne vorstellten. Mittlerweile sind täglich Medienvertreter in der Kolonie anzutreffen. Und jeder von ihnen wird eingeladen, sich mit an den Tisch zu setzen, wenn Adiles Nachbar Hassan Ali ein opulentes Mahl mit selbstgezogenem Gemüse serviert. Eine kluge Strategie, die dazu beigetragen haben dürfte, dass sich Presse und Fernsehen in dem Konflikt um die Räumung ganz auf die Seite der Gärtner gestellt hat.

„Selbst der Herausgeber der Daily Mail hat uns schon ‚viel Glück‘ für unsere Kampagne gewünscht“, sagt Sumner leicht belustigt. Sie weiß, dass das Kampfblatt der Rechten ein zweifelhafter Alliierter ist, denn es tut praktisch alles, um am Stuhl des ihm verhassten „rote Ken“ zu sägen. Den Namen hat der 2000 zum Bürgermeister gewählte Livingstone aus den 80er-Jahren weg. Damals saß er Großlondons Magistrat vor, öffnete die Labour Party für die Forderungen aus den sozialen Bewegungen und schoss mit radikalem Gestus permanent gegen die damalige Premierministerin Margaret Thatcher. Dass Livingstone dann als Bürgermeister die Pkw-Maut für die Innenstadt eingeführt hat, bei Venezuelas Präsident Hugo Chávez billigen Kraftstoff für die städtische Busflotte bestellt und gegen die Modernisierung der britischen Trident-Atomraketen agitiert, beweist aus der Sicht rechter Kommentatoren die Kontinuität seines politischen Denkens. Dagegen sind sich Linke nicht so sicher, ob Livingstone noch ihre Ideale teilt. „Dass das Stadtparlament keinerlei Befugnisse besitzt, gegen Entscheidungen des Bürgermeisters zu intervenieren, scheint Livingstone nicht als Demokratiedefizit zu betrachten. Und dass die Bürgerbeteiligung bei der Vorbereitung der Spiele reine Farce ist, will er nicht einsehen, denn er weiß ja sowieso am besten, was für die Londoner gut ist“, sagt Martin Slavin von GamesMonitor, einer Gruppe von betroffenen Stadtteilbewohnern, kritischen Planern und Architekten, die den Olympia-Verantwortlichen auf die Finger schaut.

Nach Veröffentlichung der jüngsten Überarbeitung der Olympiapläne Anfang Februar blieben den Bürgern ganze sechs Wochen, um Einspruch gegen bestimmte Vorhaben zu einzulegen. Dazu mussten sie sich durch 10.000 Seiten Dokumente arbeiten, die aufgrund technischer Probleme nur schwer von der Website der ODA herunterzuladen waren. Wer sie sicher haben wollte, musste die Pläne für 500 Pfund käuflich erwerben. Dennoch lehnte die ODA die Forderung nach einer Verlängerung des Verfahrens bis zum Juli ab. Slavin glaubt, dass gerade die armen Bewohner des Ostens wenig von der Olympiade profitieren werden. Allein im letzten Jahr hat der Wert der Immobilien in manchen Straßen des East End eine Steigerung von bis zu 30 Prozent erfahren. So mögen die Viertel rund um den Lea zwar schon vor 2012 einen Aufschwung erleben, aber um den Preis der Vertreibung ihrer derzeitigen Bevölkerung durch eine finanzkräftigere Klientel.

Unter den Ostlondonern wächst zwar die Angst vor den Negativeffekten des Megaspektakels, doch aktive Proteste bleiben aus. Und auch Julie Sumner ist sich nicht sicher, ob die Kampagne zur Rettung von Manor Garden bis zum Juli ihre jetzige Dynamik behält. Für viele Gärtner habe, so Sumner, die Kolonie mit der Räumungsdrohung und dem Medieninteresse aufgehört, das zu sein, als was sie sie immer genutzt haben: als Ort des Rückzugs vor einer Welt, in der sie es gewohnt sind, klein beigeben zu müssen. Von Resignation zeugt so manches Grundstück, auf dem in diesen Wochen das Unkraut wuchert.

Es sind vor allem die Migranten unter den Gärtnern, die Julie Sumner darin bestärken, als Sprecherin ihrer Interessen öffentlich aufzutreten. Dabei bedient sie sich auch mal des Mittels der Überrumpelung. Kürzlich fand auf dem Greenpeace-Schiff „Arctic Sunrise“, das auf der Themse geankert hatte, eine Anti-Trident-Party statt. Bianca Jagger war anwesend, und Ken Livingstone sollte eine Rede halten. Sumner gelangte an Bord und sprach den Bürgermeister vor den Anwesenden auf die drohende Räumung der Gärten an. „Immerhin gab er mir 15 Minuten, mein Anliegen vorzutragen und ihn in die Kolonie einzuladen“, erinnert sich Sumner. Livingstone nannte es eine Tragödie, dass die Gärten weichen müssten, freilich habe ihm die ODA versichert, dass es keine Alternative dazu gebe. So steht zu befürchten, dass die Kolonie im Juli endgültig verschwinden wird. Denn das Räumkommando soll selbst dann anrücken, würde die Bezirksversammlung von Waltham Forest auch den neu formulierten Antrag der Olympiabehörden auf Freigabe der Ersatzfäche für die Schrebergärten ablehnen. Schließlich droht jede zeitliche Verzögerung die Fertigstellung des Olympiageländes bis zur Eröffnungsfeier im Sommer 2012 zu gefährden und die Kosten des Projekts weiter in die Höhe zu treiben.

Das Versprechen, Manor Garden erst zu räumen, wenn die Koloniemitglieder auf einen geeigneten Ausweichstandort umziehen können, sehen diese nun endgültig gebrochen und haben Klage eingereicht. Anwälte der etablierten Naturschutzorganisation „Friends of the Earth“ vertreten sie vor Gericht.

In den nächsten Wochen muss sich zeigen, glaubt Sumner, ob eine Mehrheit der Gärtner aber auch dazu bereit sein wird, sich zusammen mit radikaleren Ökoaktivisten notfalls den Planierraupen in den Weg zu stellen. Selbst in der sonst eher regierungsnahen Sonntagszeitung Observer wurde jüngst eine Besetzung als letztes Mittel im Kampf um die Kolonie gerechtfertigt. Livingstones hochfliegende Olympia-Vision bekäme eine besondere sportliche Norte, müsste die Polizei türkische Migrantinnen und 80-jährige Rentner von ihren Gemüsebeeten wegtragen.

Oliver Pohlisch, 40, ist taz-online-Redakteur