: Dimensionen des Dritten Weges
Zum Ende der Spielzeit läuft auf Kampnagel ein politisch-historisches Festival auf: Tito im Dialog mit der Avantgarde des europäischen Theaters
VON MART-JAN KNOCHE
Die Sommerpause auf Kampnagel naht und liegt in weiter Ferne: Gleich fünf südosteuropäische Theaterproduktionen stehen noch auf dem Programm – zwei Uraufführungen und drei Deutschlandpremieren, die im Wechsel mit Symposien, Vorträgen und Workshops auf die Bühne kommen. Insgesamt beteiligen sich rund einhundert Künstler und Balkanexperten an dem zwölftägigen „Reigen über Sehnsucht, Glamour und Verdammnis“, der die historische und politische Dimension des einstigen jugoslawischen Staatspräsidenten Tito zu ergründen sucht.
Nicht nur das Ende einer Spielzeit, auch den Schlusspunkt ihres Engagements markieren die kommenden vier Wochen für Gordana Vnuk. Die Kampnagel-Intendantin wird dann ihr Amt an Amelie Deuflhard abtreten. Ein leises Ausklingen allerdings wird Vnuks Abgang nicht begleiten. Vielmehr verspricht der letzte Themenblock „Tito – Der dritte Weg“ ein großes Finale.
Wer war Josip Broz „Tito“ (1892–1980)? Bonvivant und Partisan, Präsident, Diktator – und zugleich mythische Gestalt der jüngeren europäischen Geschichte. Symbol eines befriedeten, sozialistischen Balkans im Leben. Symbol des Zerfalls und des Bürgerkrieges im Tod. Titos politisches Erbe steht, neben seiner Lebensgeschichte, im Mittelpunkt des Festivals: Die Integration der neuen Balkanrepubliken in Europa, das außenpolitische Modell des „Dritten Weges“, das während des Kalten Krieges am Balkan einen Raum zwischen Kommunismus und Kapitalismus schuf und Titos Rolle in der Bewegung der blockfreien Staaten definierte.
Eröffnet werden die Tito-Festspiele mit einem kuriosen Vortrag des slowenischen Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Žižek. Der Direktor des Londoner Birbeck Institute of Humanity folgt seinem Ruf eines intellektuellen Provokateurs: „How Stalinism saved the humanity of man!“, lautet der frivole Titel des Abends. Welche positiven Kräfte Stalins „kulturelle Transformation“ in den 30er Jahren auch immer barg – Žižek glaubt es erklären zu können.
Der Ambiguität des Tito-Begriffs nähern sich die fünf Bühnenstücke mit Facettenreichtum: „Tito, gewisse Diagramme der Sehnsucht“, inszeniert von dem mazedonischen Regie-Trio Dean Damjanovski, Martin Kocovski und Dejan Proikovski, konzentriert sich gänzlich auf den Werdegang des sozialistischen Führers: Von 1918 bis zu seinem Tod und noch weiter zum Bürgerkriegsbeginn. Gemeinsam mit der russischen Choreographin Olga Pona sucht das Ensemble aus Skopje mit vierzig Schauspielern und Tänzern nach „der unterschwelligen Atmosphäre, in der Titos Kommunismus zum Tragen kam“.
In „Tito & Nasser“ indes widmet sich der Kairoer Regisseur Ahmed El Attar dem Mythos und Führerkult. „Mit der Art wie heute DJs agieren und die euphorisierten, fieberhaften Massen regieren“ vergleicht sein Stück die Beziehungen, die der jugoslawische und der ägyptische Präsident in den 50er Jahren zu ihren Volksmassen unterhielten. Die St. Petersburger Performancegruppe Akhe erstellt einen „Katalog des Helden“ und erkundet die Innenansichten von Heroen. Der Berliner Choreograph Felix Rücker inszeniert mit indischen Tänzern zum „Dritten Weg“ eine „künstlerische Orgie“, als Hommage an Titos Indienbesuch. „Die Reise nach Jeruzalemski“ erzählt von Reisen durch die Balkanrepubliken, die die multimediale Regietruppe „Schöne Gegend“ dokumentierte.
Am letzten Spieltag verschmelzen die fünf Produktionen in einer finalen Montage zu einem Massenspektakel. Die ehrgeizige Synthese, sagen die Veranstalter, entstamme dem politischen Theaterbegriff von Erwin Piscator: „Wir wollen keine Episoden aus irgendeiner Zeit sehen, sondern die Zeit selbst.“
„Tito – Der Dritte Weg“, 4. bis 16. Juni, Info: www.kampnagel.de
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