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Arbeit, wie sie war und ist

ÜBERLEBEN Die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy zeigt, dass Erwerbsarbeit als wichtigstes Instrument zur Existenzsicherung ein historisch relativ neues Phänomen ist

Als Arbeit gilt heute, was Geld bringt – weswegen ein bezahlter Job als zentrale Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben angesehen wird. Diese Perspektive ist allerdings nur eine Momentaufnahme. Sie blendet die Geschichte ebenso aus wie den heutigen Alltag in vielen Ländern.

Die Wiener Professorin Andrea Komlosy hat ein sehr kundiges und gut strukturiertes Buch über das „Chamäleon Arbeit“ geschrieben. In Längs- und Querschnitten durch Zeiten und Weltgegenden beschreibt sie, wie Arbeit organisiert und interpretiert wird. Dabei zeigt sich, dass die globalen Arbeitsbedingungen seit langem wie kommunizierende Röhren funktionieren und zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Macht- und Handelszentren aus geprägt wurden.

Welche Rolle bezahlte und unbezahlte Arbeit spielt, was als ehrbar und unehrenhaft gilt und welche Tätigkeiten reguliert oder informell verrichtet werden, ist sehr unterschiedlich. Technische und handelspolitische Rahmenbedingungen spielen hier ebenso eine Rolle wie die Zuschreibung von Geschlechterrollen. Auch die Interpretation, welche Tätigkeiten als Mühe und Leid, welche als berufliches Werk und Selbstverwirklichung gesehen werden, wechselt.

Komlosy untersucht beispielhaft den Wandel der Arbeit in China seit dem 19. Jahrhundert und zeigt, dass es parallel zu den politischen Phasen unterschiedliche Wertschätzungen für bestimmte Tätigkeiten gab. Ausgerechnet für Fabrikarbeiter in kapitalistischen Unternehmen ist die soziale Sicherheit in China heute extrem gering – anders als hierzulande, wo die Stammbelegschaften großer Unternehmen im Vergleich zu vielen anderen Beschäftigtengruppen noch gut gepampert sind.

Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde in Europa die „Einheit von Leben, Arbeiten und Wirtschaften in die einzelnen Bereiche“ aufgesprengt. Die Formalisierung und sozialpolitische Absicherung von Arbeitsverhältnissen war charakteristisch für die damaligen Zentren der Weltwirtschaft in den 1880er bis 1980er Jahren. Sie ging einher mit einer Entwicklung, in der Lohnarbeit „zur zentralen Quelle des Überlebens, der persönlichen Identität und des sozialen Aufstiegs“ wurde. Noch hundert Jahre zuvor hätte eine Trennung von produktiver und reproduktiver, bezahlter und unbezahlter Arbeit auch in Europa keinerlei Sinn gemacht, weil es im „ganzen Haus“ um die Versorgung der Beteiligten ging und nicht ums Wirtschaftswachstum.

Die Annahme, dass sich die Arbeit in den Ländern des Südens nun ähnlich entwickeln wird wie einst in den Industrieländern, hält Komlosy für verfehlt. Zwar gibt es in den sogenannten Schwellenländern wachsende Mittelschichten. Doch ihr Aufstieg geht einher mit einer starken Spaltung der Gesellschaften und auf Kosten ärmerer Länder. Dass der Kapitalismus ein Entwicklungsmodell sein könnte, bei der die gesamte Menschheit gemeinsam im Fahrstuhl nach oben fährt, ist deshalb reine Ideologie.

Auch die Hoffnung der Gewerkschaften, bei uns einen sozialpolitisch regulierten Zustand wie vor den 1980er Jahren wiederherstellen zu können, ist vergeblich: Die organisierte Arbeiterschaft schrumpft, die Zahl der unstet Beschäftigten wächst und der international vernetzte Arbeitsmarkt setzt vor allem Geringqualifizierte massiv unter Druck. Während sie mit Niedriglöhnen und miesen Arbeitsbedingungen zu kämpfen haben, wächst zugleich die Zahl gut ausgebildeter Freiberufler. Komlosy sieht Anzeichen, dass in den postindustriellen Ländern die Subsistenzwirtschaft wieder an Bedeutung gewinnt – und Erwerbsarbeit wieder unwichtiger werden könnte. ANNETTE JENSEN

Andrea Komlosy: „Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive“. Promedia, Wien 2014, 204 Seiten, 17,90 Euro

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