Himmel über Aleppo

EINSCHLÄGE Fast täglich fallen Assads Bomben auf die zweitgrößte syrische Stadt. In Trümmern kämpfen die Menschen um einen Alltag. Sie demonstrieren, Sanitäter rasen über Schutt, Teenager werden zu Lehrerinnen

■ Der Krieg: Nach monatelangen friedlichen Protesten gegen die Diktatur in Syrien, die im März 2011 begannen, ging das Regime ab Sommer desselben Jahres gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Als Reaktion gründete sich die Freie Syrische Armee (FSA). Von einem offenen Krieg zwischen Kämpfern der Opposition und der Armee lässt sich ab Frühsommer 2012 sprechen. Währenddessen gewannen islamistische Kräfte zusehends an Einfluss.

■ Die Fronten: Besonders im Norden und Osten Syriens haben die Dschihadisten und zuletzt der Islamische Staat (IS) Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Die weltweite Aufmerksamkeit gilt derzeit vor allem dem Kampf des IS gegen die Kurden. Gleichzeitig fliegt Assads Armee in anderen Teilen des Landes weiter Angriffe gegen Opposition und Zivilbevölkerung und kämpft gegen die verbliebenen Kräfte der Freien Syrischen Armee und diverser anderer Rebellengruppen.

■ Die Stadt: In Aleppo, das vor Kriegsbeginn einmal mehr als 2 Millionen Einwohner hatte, treffen zahlreiche Rebellengruppen, Dschihadisten und Assads Truppen aufeinander und kämpfen um die Kontrolle über einzelne Stadtviertel und die wenigen Versorgungswege. Im Osten der Stadt dominiert noch die syrische Opposition. Sie droht allerdings zwischen den Dschihadisten und den Regierungstruppen zerrieben zu werden.

AUS ALEPPO JAN-NIKLAS KNIEWEL (TEXT UND FOTOS)

Eine Fassbombe ist ein Ölfass, gefüllt mit Nägeln, Metallschrott, Benzin und Sprengstoff. Sie kann bis zu eine Tonne wiegen und kostet maximal dreihundert Dollar. Höchstens drei solcher Bomben passen in einen Helikopter.

Am frühen Morgen erscheinen die Hubschrauber der Syrischen Armee am Himmel über Aleppo und lassen die Fässer auf die Stadt fallen. Die Nägel und das Metall zerfetzen Gliedmaßen und Organe der Menschen, die geblieben sind.

Aladin, 24 Jahre alt, ist Sanitäter. Jeden Tag fährt er dorthin, wo die Bomben landen. Er ist dafür vor einem Jahr aus dem Westen Aleppos in den Osten der Stadt gezogen, wo die Opposition regiert. Zuvor hat er in der anderen Hälfte der Stadt mit Hilfsorganisationen wie dem Roten Halbmond zusammengearbeitet.

Allein am Tag zuvor, erzählt Aladin, seien 24 Fassbomben gefallen, 11 in nur zwei Stunden. Er wolle dort helfen, sagt er, wo die Not am größten sei: „Wenn im Westen einmal eine Granate einschlägt, stehen sofort alle Rettungsdienste der Stadt bereit.“

Einige hätten sie bei den Angriffen am Vortag retten können, einige seien sofort gestorben. Zehn allein bei einem der Abwürfe. „Ich verstehe die Sprache des Krieges nicht“, sagt Aladin. Er lächelt traurig.

Fast 200.000 Menschen sind bisher umgekommen. Es ist das vierte Jahr des Sterbens in Syrien. Über den Diktator Baschar al-Assad, die Luftangriffe auf Zivilisten, die Politik des Aushungerns spricht die Weltöffentlichkeit jetzt kaum noch. Assads Verbrechen geraten angesichts der dschihadistischen Barbarei des sogenannten Islamischen Staats, dessen Expansion im Irak und in Syrien voranschreitet, mehr und mehr in Vergessenheit.

Aladin trägt die graue Uniform und den weißen Helm der Zivilen Verteidigungskräfte, einer Gruppe von Ersthelfern, die zu den Verletzten und Toten eilen, wenn die Bomben gefallen sind. Er ist einer der Menschen, die in Aleppo um Normalität kämpfen. Wie die 17 Jahre alte Schülerin, die gerade zur Lehrerin ausgebildet wird, wie Hamad, der weiter demonstriert.

Es ist kurz nach 7 Uhr morgens, ein Tag Anfang Oktober. Ein ehemaliges Schulgebäude in Hanano, einem der am schlimmsten von den Fassbomben getroffenen Stadtteile. An der Wand ein Graffito. In blauer Farbe steht dort: „Das Leben suchen unter der Zerstörung“.

Hier lebt Aladin mit den anderen Männern der Zivilen Verteidigungskräfte. Einige stehen im Hof. Es gibt Tee, während sie in den Himmel starren, der frei von Wolken ist. Kein gutes Wetter, die Soldaten in den Hubschraubern haben freie Sicht. Immer wieder melden sich scheppernd Stimmen übers Funkgerät: Ein Hubschrauber nähert sich, dreht ab. Er kreist über dem Viertel. Die Männer suchen den Himmel ab, bis sie den Helikopter wieder entdecken. Ein winziger weißer Fleck im klaren Blau. Finger werden gereckt: „Siehst du ihn?“

Hassan ist 21 Jahre alt. Ein leiser und schüchterner junger Mensch mit rundem Gesicht, dem ein Schneidezahn fehlt. Rotbraunes Haar. Kaum vorstellbar, dass er einst mit der Islamischen Front kämpfte, bevor er sich entschied, die Waffe niederzulegen. „Es ist ein menschlicher Job“, sagt er. „Als ich hörte, wie die Bomben fallen, Kinder und Frauen töten, da wollte ich helfen.“ Es sei ein permanenter Kampf um Leben, anders, als an der Front herumzusitzen und zu warten, sagt er.

Zehn Stunden von einer Stadthälfte in die andere

Dass der Krieg bald enden könnte, glaubt Hassan nicht. Vielleicht werde alles noch 15 Jahre dauern. „Die Welt hilft uns nicht genug. Es geht nur darum, Menschen zu retten, das ist das Einzige woran ich gerade denke.“

Dann die Bombe, ein lauter Knall, der noch Kilometer weiter die Fenster beben lässt. Die Helfer rennen zu einem ausrangierten deutschen Feuerwehrfahrzeug, sie steigen in einen alten französischen Krankenwagen und rasen los. „Pour une Syrie libre“ steht auf den Aufklebern, die den roten Wagen zieren. Für ein freies Syrien. Eine Vision, die so unglaublich fern wirkt angesichts des Terrors, der das Land zerreißt.

Während sie über den kaputten, holprigen Asphalt jagen, stehen Anwohner vor ihren Häusern und weisen ihnen den Weg, zeigen in die Richtung der Abwurfstelle. Zwischendurch stoppt der Krankenwagen immer wieder. Alle stürzen nach draußen und ducken sich hinter Mauern, weil der Helikopter sich erneut nähert. Assads Luftwaffe verschont auch Sanitäter nicht. Bei den Rettungsversuchen sind seit Anfang dieses Jahres 7 Helfer getötet worden, 25 wurden verletzt, die Rettungssanitäter aus den Krankenhäusern nicht mitgezählt.

Am Ort des Einschlags im Viertel al-Hedariyaa. Einer der Busse, die zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt verkehren, wurde getroffen. Er hätte entlang von Checkpoints der Freien Syrischen Armee, des Islamischen Staats und des Regimes fahren sollen. Ein Umweg von Hunderten Kilometern. Zehn Stunden von der einen Stadthälfte in die andere. Ein gefährlicher Weg. Der einzige.

Die Leute im Bus wollten im Westen arbeiten, Geldgeschäfte erledigen oder Krankheiten behandeln lassen, für die im Ostteil die Spezialisten fehlen. Manche hatten vor, Verwandte zu besuchen. Wer in Busse wie diesen steigt, hat mit der Opposition nichts zu tun, außer dass er in ihren Gebieten lebt. Sonst würde er riskieren, an den Checkpoints des Regimes verhaftet und in die Folterknäste gebracht zu werden. Erreichen die Busse die Gebiete des IS, müssen sich die Frauen verschleiern und in Begleitung eines Mannes sein. Keine Zigaretten, keine engen Hosen, dann gebe es kaum Probleme, sagt der Busunternehmer.

Von den 24 Passagieren in dem zerbombten Bus sind 6 sofort tot. Passanten und Sanitäter versuchen, die verkeilten Türen aufzureißen. Irgendwann gelingt es endlich. Viele der Verletzten haben tiefe Wunden, Knochen ragen aus zerfleischten Armen.

Der Busfahrer gehört zu den Überlebenden. Abends wird er erzählen: „Ich hatte die Bombe nicht gehört, dann kam die Explosion. Ich schaute, was passiert war, der Person, die am nächsten bei mir saß, war der Unterleib aufgeplatzt. Überall war Blut, dann kamen die Leute, und alle schrien.“

Das verkrümmte nackte Metallskelett eines Tankwagens steht auf der Straße. Er hätte Wasser in die Gebiete bringen sollen, in denen keines mehr aus den Leitungen fließt. Der zerfetzte Leichnam des Fahrers hängt aus der Kabine. Das Wasser läuft aus dem Tank.

Ein Medienaktivist, einer von jenen, die versuchen, die Welt mit Fotos oder Videos auf YouTube am Vergessen zu hindern, wird später von einem „Massaker“ reden. Ein anderer widerspricht: Es sei doch nur ein Tag wie jeder andere.

Zurück vom Einsatz, dem zweiten von sieben an diesem Tag, schweigen einige der Männer von den Zivilen Verteidigungskräften und warten nur auf den nächsten Einsatz. Andere unterhalten sich angeregt, scherzen herum. Humor hilft. Unter ihnen der Sanitäter Waal. Am nächsten Tag wir ihm eine von 14 Fassbomben das Leben nehmen.

Es sind fast nur sie, die Unbeteiligten, die Opfer dieser Fässer werden, denn an den Frontlinien wagt die Armee kaum, sie abzuwerfen. Sie sind so schwer zu kontrollieren, dass sie das Leben der eigenen Soldaten gefährden würden.

Deshalb zieht es die Menschen nahe an die Front, in die Trümmer, wo sie versuchen, ihrem Alltag Struktur und ein wenig Normalität zu verleihen. Stoisch gehen sie ihrem Alltag nach, als könne das vergessen machen.

Aleppo ist beinahe gänzlich von der Armee eingekreist, eine einzige Straße dient der Versorgung sowohl der Bevölkerung, als auch der Rebellen. Ein anderer Weg, mehr staubige Piste als Straße, taugt kaum als Nachschubroute. Wie prekär ihre Lage ist, wurde den Rebellen bewusst, als die Syrische Armee am 3. Oktober eine Offensive auf die Straße startete und sie binnen wenigen Stunden abschnitt. Seitdem dauern die Kämpfe dort an. Es bleibt zur Versorgung nur noch die staubige Piste. Aleppo droht damit das Schicksal von Homs, der Stadt, die erst umzingelt und dann systematisch ausgehungert wurde.

Die Zentrale des Aufklärungsdienstes im Osten Aleppos. Rebellen, die vor sich hin starren. Angst in den Gesichtern. Abdel, ein schüchterner, ruhiger Mann, der dem Reporter unbedingt das islamische Glaubensbekenntnis entlocken möchte, für den Fall, dass alles schiefgeht. Ein Aktivist, der versichert, man möge ihn lieber erschießen, bevor die Schergen des Regimes ihn kriegen.

Die Puppen haben Müllsäcke überm Kopf

Dass ein Ende des Schreckens abzusehen ist, sei es in noch so weiter Ferne, glaubt hier niemand mehr. Tag für Tag sterben Menschen, Freunden, Verwandte.

Immer wieder Fassbomben.

Der Rebellenkommandant wurde bei den Kämpfen um das Industriegebiet Sheik Najjar verwundet, jenen Ort, dessen Versorgungsstraße die Armee angriff. Er war einer der Ersten, die desertierten, als Assads Armee auf die Demonstranten zu schießen begann. Trotz seiner Verwundung zieht es ihn wieder an die Front. Sein kaputtes Bein schleppt er hinter sich her. Er gehört zu einer jener Brigaden der Freien Syrischen Armee, die Assad genauso bekämpfen wie den IS. „Wir akzeptieren die US-Attacken auf den IS, sie sind richtig, doch das ist nicht genug“, sagt er. „Wenn die Vereinigten Staaten sowohl Baschar al-Assad als auch den IS bombardieren würden, könnten wir wirkliche Fortschritte machen“, erklärt er. Er weiß, dass US-Präsident Barack Obama nicht plant, Assad anzugreifen. Und selbst wenn Assad und der IS besiegt wären, sei das nicht das Ende, sagt der Kommandant: Sie würden gegen die verbliebenen dschihadistischen Gruppen kämpfen müssen.

„Assad ermordet Ärzte, Sanitäter, Journalisten“, ruft ein Freund von Waal, dem getöteten Sanitäter. „Ich kann es nicht verstehen. Warum bombardieren sie den Islamischen Staat, aber nicht Assad? Weil er smart ist, nicht wie der IS dumme Tiere?“ Ihre Leben hier seien den westlichen Staaten offenbar nichts wert: „Wir sind nur Tiere für sie“, sagt er. „Warum sonst lassen sie uns alle alleine sterben?“

Noch immer demonstrieren die Menschen im Osten Aleppos. Zeichnen Schilder und Karikaturen. Noch immer fordern sie Freiheit. Es sind weniger geworden, halb so viele wie früher, sagt Hamad, ein kahlköpfiger Mann in den Dreißigern. Viele seien kämpfen gegangen, als der friedliche Protest immer hilfloser wurde. Die meisten seien geflohen. Hamad war von Anfang an dabei. Er organisiert die Proteste, die nach dem Freitagsgebet stattfinden. In der Ecke seines Wohnzimmers lehnt die schwarz-weiß-grüne Fahne mit den drei roten Sternen an der Wand. Sie ist seltener geworden in Aleppo – anders als die schwarzen Flaggen mit der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis.

„Natürlich hat die Revolution viele Probleme mit Islamisten, die sie zu vereinnahmen versuchen“, sagt Hamad. Er wünsche sich ein freies, kein islamisches Land. Während er auf dem Sofa seines kahlen Wohnzimmers sitzt, malt er sich die Demokratie in den buntesten Farben aus, nennt all die Länder, von deren politischen Systemen man lernen könnte. Es gibt viele wie ihn in diesem Land. Man vergisst sie im Westen allzu leicht.

Die Opposition bräuchte eine wirkliche starke Stimme im Ausland, sagt Hamad. Doch für die Nationale Koalition in Istanbul, mit der der Westen verhandelt, hat er nichts übrig. „Sie sind nicht hier wie wir. Sie arbeiten nicht wirklich für das syrische Volk, sondern bekriegen sich gegenseitig und versuchen, ihren eigenen Einfluss zu sichern.“

Die islamistischen Eiferer sind auch in Aleppo nicht zu übersehen. In manchen Vierteln gibt es kaum ein Haus, an dem nicht die weißen Zettel kleben, in deren Ecken sich eine weiße und eine schwarze Schahada-Flagge kreuzen. Sie erklären, warum es einen islamischen Staat brauche. Mit Parolen wie: „Die neue Kreuzritter-Allianz ist für das Erstarken des Systems und gegen das Aufzwingen amerikanischer Interessen.“ Unterzeichnet sind die Blätter von der Hizb ut-Tahrir, einer fundamentalistischen Partei, hervorgegangen aus der Muslimbruderschaft – in allen arabischen Ländern verboten. Je weniger der Westen die Moderaten unterstützt, desto stärker werden in der Opposition die islamistischen Radikalen.

Viele Kinder und Männer suchen in den Trümmern der zerstörten Viertel nach Metallschrott, in der Hoffnung, ihn verkaufen zu können. Riesige Säcke auf den Schultern, streifen sie durch die Stadt, durch Viertel wie Hanano, wo heute noch 300 Familien inmitten der Zerstörung leben. Einst waren es 300.000 – so viele wohnen heute im gesamten Ostteil Aleppos.

In den Bekleidungsgeschäften haben die Verkäufer den Puppen Müllsäcke über den Kopf gezogen, aus Angst, die salafistischen Tugendwächter des IS könnten sie bestrafen, sollten sie in die Stadt zurückkehren. Mehr Frauen in Aleppo sind verschleiert als noch vor ein, zwei Jahren.

Die Gesetze macht in der Stadt die sogenannte Scharia-Behörde: Moderate Aktivisten erzählen von heftiger Repression, doch die habe nachgelassen, seit die al-Qaida verbundene Al-Nusra-Front nicht mehr am letzten verbliebenen Gericht beteiligt ist, das der Scharia-Behörde direkt angegliedert ist. Anerkannt und unterstützt von fast allen Rebellengruppen, liegt es im Erdgeschoss eines zerstörten Krankenhauses. Die Fenster sind zugemauert, aus Angst vor Bomben.

Wer soll wiederaufbauen, wenn der Krieg je endet?

Der Vizepräsident des Gerichts empfängt in einem kahlen Raum. Ein leerer Aktenschrank, schmutzig weiße Plastikstühle. Auf dem Schreibtisch Laptop und Koran.

Was ist Gerechtigkeit?

„Licht ins Dunkel zu bringen, Kriminelle zu bekämpfen und tun, was möglich ist, für Frieden in diesem Krieg. Stiehlt jemand nur aus Hunger, muss dies berücksichtigt werden.“

Sind Demokratie und Scharia vereinbar?

„Die Scharia-Behörde ist die Justiz, die Demokratie Politik. Wir sollten nicht beides vermischen.“

Sollte die Mehrheit der Bevölkerung später ein säkulares Rechtssystem wollen, würden Sie sich dem fügen?

„Wenn wir siegen, so sind wir alle gleichermaßen Syrer. Sollte eine freie Regierung entscheiden, dieses Gericht zu behalten, oder sollten sie andere Ideen haben, werden wir dies mittragen.“

Sie sind hier erfahrener im Umgang mit der Presse geworden. Sie haben ein Medienbüro eingerichtet. Sieben Monate hatten sie mit keinem Journalisten gesprochen, weil der Text eines US-Reporters sie so sehr geärgert hatte.

Die Kommission der Vereinten Nationen, die die Kriegsverbrechen in Syrien untersucht, veröffentlichte im September einen Bericht, laut dem die Verbrechen des Regimes die des Islamischen Staates übertreffen, und stellte bei der Präsentation fest: „Die syrische Regierung bleibt verantwortlich für die Mehrheit der zivilen Opfer, tötet und verstümmelt täglich zahlreiche Zivilisten, sowohl aus der Distanz durch Beschuss und Bombardement als auch aus der Nähe, an ihren Checkpoints und in ihren Verhörräumen.“

Und trotz allem, trotz der Trümmer, der Fassbomben, der Trostlosigkeit, besuchen Kinder noch die Schule. Weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Stadt kann irgendwo am Unterricht teilnehmen. Eine kleine Gruppe syrischer Aktivisten hat ein Programm entwickelt, um die Kinder den Krieg vergessen zu lassen. Zumindest kurz. Spielen, malen, singen.

Im oppositionellen Stadtrat versucht man, die Not zu verwalten. Ein Behördengebäude wie überall auf der Welt – billige Schreibtische in Reihen, Aktenschränke. Die Frauen und Männer, die hierherkommen, sitzen auf blauen Plastikstühlen, ein Ventilator brummt gegen die Hitze an. Es gibt Abteilungen für Verwaltung, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnen. Die meisten Lehrer hätten die Stadt verlassen, klagen Mitarbeiter, seien geflohen oder auf die Seite Assads übergelaufen. Deshalb versucht die Behörde, neue auszubilden, in Schulungen von 15 Tagen. Für mehr reichen die Ressourcen und die Zeit nicht.

Jahrzehntelang hat man ihnen in Geschichte nur eingebläut, dass der Assad-Clan alles sei. Syrien und das Leben. Und nun? Zehntausende Kinder und Jugendliche werden nicht unterrichtet, die Studenten können nicht an die Uni. Wer soll das Land wiederaufbauen, wenn der Krieg endlich einmal ein Ende nehmen sollte? Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als fünfzehn.

Eine der Nachwuchslehrerinnen ist Yasmin, sie ist 17 Jahre alt, trägt ein Kopftuch und hat die Schule selber noch nicht abgeschlossen. Fünf Trainings hat die junge Frau schon hinter sich gebracht und darf nun eine erste Klasse unterrichten. Bezahlt wird sie nicht.

„Lehrerin wollte ich schon als kleines Mädchen werden“, sagt sie zwischen den Schreibtischen der Schulbehörde. Und sie erzählt, wie man ihr beibringt, auch mit schwierigeren Schülern umzugehen, wie man sie zum Lernen motiviert. Yasmin redet nicht viel. Die Fragen des Reporters nach dem Schulsystem, den Klassen und Kursen scheinen sie ein wenig zu langweilen.

Auch Yasmins Mutter ist Lehrerin. Sie ist die einzige studierte Pädagogin, die noch geblieben ist, heißt es in der Behörde. Sonst gebe es nur noch Männer.

Jan-Niklas Kniewel ist freier Journalist und Fotograf in Berlin