Im Tal der schweigsamen Eigenbrötler

Ein Dorf im Piemont rätselt über einen Toten. „Der Steingänger“ von Davide Longo – in Italien längst ein Literaturstar, in Deutschland noch zu entdecken – spielt im Milieu von Flüchtlingsschleusern. Männer verbrauchen hier mehr Zigaretten als Sätze und haben Gesichter „wie abgenutzte Taschen“

Alle Figuren wirken ein wenig verloren. Man könnte meinen, in diesem Tal sei Reden eine Schande

VON IRENE GRÜTER

Cesare sitzt im Rauch seiner Gitanes am Küchentisch und schaut in den Abendhimmel. Viel zu früh ist der Winter hereingebrochen, Schneeregen verdirbt das letzte Heu und macht die Bauern missmutiger als sonst. Davide Longos Erzählung um einen Mord in einem piemontesischen Bergdorf spielt in einer eng begrenzten, fast archaischen Welt. Auf der Piazza vor der Kirche hocken alte Frauen mit Beinbandagen, ab und zu keuchen Busse die Serpentinen hinauf, die Dorfjugend knattert auf Mopeds vorbei, Katzen blinzeln, und Kühe kalben. Doch trotz des nostalgischen Flairs ist das ländliche Idyll gestört.

Seit Cesare eine Leiche im Bachbett gefunden hat, sprechen die Bewohner wenig und beäugen sich mit Vorsicht. „Solche Leute sterben nicht in ihrem Bett!“, munkelt man über den Toten, Cesares Patensohn, mit dem er früher Flüchtlinge über die grüne Grenze von Italien nach Frankreich geführt hat. Jeder im Dorf wusste darüber Bescheid, doch gesprochen wurde nicht über die Tätigkeit der Schleuser, und so hat ihn die Arbeit mit der Zeit einsam gemacht. Immer noch nennt man ihn „den Franzosen“, weil er in seiner Jugend einige Jahre als Gastarbeiter in Frankreich war. Nun interessiert sich die Polizei für Cesare, und weil ihm die junge Kommissarin zunehmend sympathisch ist, trifft er sie öfter, als es dem Schleusermilieu lieb ist. Eines Tages hängt sein Hund aufgeschlitzt an der Decke, und Cesare weiß, dass sich die Vergangenheit nicht länger wegschieben lässt. „Es ist dumm, wenn man etwas unbedingt wissen muss“, sagt ihm ein alter Kollege, als er Nachforschungen anstellen will. „Zumal es die Zweifel sind, die uns am Leben erhalten.“

Davide Longos Sprache hat etwas Grobkörniges; zugleich spürt er mit feiner Zurückhaltung den eigenbrötlerischen Charakteren der Dorfbewohner nach. Wie genau der 1971 im Piemont geborene Autor mit dieser Umgebung vertraut ist, wird in den Beschreibungen und Dialogen immer wieder spürbar. In kurzen, klar ausgeleuchteten Kapiteln formt er Szenen und Stimmungen und trennt sie, wie in einem Schwarzweißfilm, durch deutliche Kontraste. Hellen Tagbildern folgen Nachtszenen, in denen sich Gebirgskämme und Gestalten dunkel vom weißen Schnee abheben. Im Negativ entsteht eine scharfkantige Landschaft, die sich mit der Gemütslage der Menschen deckt.

Dem älteren Cesare steht der junge Sergio gegenüber. Der schlaksige Bauernsohn fühlt sich zum „Franzosen“ hingezogen, aus abenteuerlicher Faszination für das Schleusermilieu, vielleicht auch weil er in Cesares französischer Vergangenheit eine Verbindung zu seiner Mutter sieht, die aus dem engen Dorf nach Marseille geflohen ist. Alle Figuren wirken ein wenig verloren, jeder bleibt sich selbst fremd. Keiner dieser Männer mit „Gesichtern wie abgenutzten Taschen“, die mehr Zigaretten als Sätze verbrauchen, scheint zu wissen, wie man sich anderen Menschen mitteilt. „Man könnte meinen, in diesem Tal sei Reden eine Schande“, sagt die Kommissarin, als sie Cesare in seinem abgelegenen Haus besucht. „Hier muss jeder für irgendetwas büßen“, antwortet er.

Aus solchen Informationsschnipseln, wie ausgeschnittene Ecken eines Scherenschnitts in den Text gestreut, muss sich der Leser auf das Muster des Ganzen schließen. Doch trotz Leiche, Kommissarin und immer weitergetriebener Spannung erzählt Davide Longo keinen klassischen Krimi. Die Suche nach dem Täter rückt in den Hintergrund vor der Psychologie Cesares, der zunächst kein Interesse daran hat, die Aufklärung des Mords voranzutreiben. Bis ihm Sergio von den halbverhungerten Flüchtlingen berichtet, die in einer Hütte hoch oben im Schnee auf ihre Weiterführung warten. Widerwillig mobilisiert er seine früheren Kontakte und riskiert die Überführung zusammen mit dem Jugendlichen.

Der unverstellte, pure Blick, mit dem Davide Longo seine Charaktere beschreibt und dabei einen präzisen Plot entwickelt, hat etwas angenehm Unzeitgemäßes. Bis zur letzten der 170 Seiten bleibt dieser Roman satt und griffig, jedes Detail ist richtig gesetzt, und es bleibt zu hoffen, dass demnächst weitere Werke des in Italien mehrfach ausgezeichneten Autors ins Deutsche übersetzt werden.

Davide Longo: „Der Steingänger“. Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Wagenbach Verlag, Berlin 2007, 172 Seiten, 17,50 Euro