Die Alten halten und Junge ködern

Wer nach Emsdetten zieht und Kinder mitbringt, wird belohnt. Im Wettbewerb um Einwohner lassen sich Städte in NRW neuerdings was einfallen. Auch auf Kosten anderer Kommunen, die durch sinkende Geburtenraten und eine unattraktive Infrastruktur vor allem die Jungen ziehen lassen müssen

VON NIHAD EL-KAYED UND HANNAH HOFFMANN

Kaum Schulen, wenig Arztpraxen, einen Arbeitsplatz gibt es erst in der nächst größeren Stadt, und Züge fahren kaum oder gar nicht (mehr). Unter diesen Bedingungen fällt es schwer, aufs Land zu ziehen. Oder dort wohnen zu bleiben. Die Infrastruktur manch ländlich gelegener Kommunen in Nordrhein-Westfalen ist so schlecht, dass sie immer mehr Einwohner verlieren.

Um als Standort wieder attraktiver zu werden, haben sich einige Städte etwas Besonderes einfallen lassen. Zum Beispiel Emsdetten. Wer dorthin zieht und ein Haus baut oder kauft, wird jahrelang mit Geld belohnt. Seit Anfang 2007 gibt es dort das so genannte altersbezogene Patenschaftsgeld. Auf insgesamt 1.700 Euro Förderung pro Kind können Eltern kommen, bis dieses 14 Jahre alt wird. Für jedes Kind unter 16 gibt es auf Antrag außerdem eine Kinderzimmerzulage von 2.000 Euro.

Sinn und Zweck dieser Geschenke sei es, „die besondere Verbundenheit und die besondere Wertschätzung der Stadt Emsdetten für die in ihrem Gemeinwesen lebenden Kinder und deren Familien auch handfest zum Ausdruck zu bringen“, schildert die Stadt in ihrem Programm „Emsdettener Familien gewinnen“. Wer ohne Familie hinziehen möchte, geht leer aus. Das ist durchaus beabsichtigt. „Die Topzielgruppe sind nun mal junge Familien“, sagt Frank Osterhage, Mitarbeiter am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen NRW in Dortmund. Sie könnten durchweg besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. „Außerdem bedeuten junge Familien auch ein Stück Zukunftssicherung für eine Kommune.“

Ob das Programm tatsächlich zu einem Bevölkerungswachstum geführt hat, ist in Emsdetten heute noch nicht klar. Schließlich müssen die Anträge erstmal sorgfältig geprüft werden. Karl-Heinz Mense vom Bürgerbüro Emsdetten betont aber: „Das Programm ist sehr erfolgreich angelaufen. Es sind sehr viele Anträge eingegangen.“

Der Einwohnerverlust in NRW liegt jedoch nur zum Teil an der schlechten Infrastruktur der Städte. Ursache ist auch der demographische Wandel insgesamt. „Ganz Deutschland verliert an Bevölkerung“, erklärt Ralf Ulrich vom Institut für Bevölkerungs- und Gesundheitsforschung an der Universität Bielefeld. Seit den Siebzigerjahren schon sei die Sterberate höher als die Geburtenrate. „Dieses Geburtendefizit wurde bislang durch Einwanderung aufgefangen, doch damit ist es jetzt vorbei“, so Ulrich.

Die von der Abwanderung betroffenen Regionen haben nur eine Möglichkeit zu reagieren: Sie müssen dafür sorgen, dass neue Einwohner kommen und die alten bleiben. Das ist gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich Motive für einen Umzug sein können. Noch dazu gibt es Regionen in Nordrhein-Westfalen, die offensichtlich die Einwohner anderer Regionen „weglocken“. Regionen im Raum Köln/Bonn etwa haben entgegen des allgemeinen Trends sogar eine wachsende Bevölkerung. Wie kommt es, dass in Nordrhein-Westfalen die Verteilung so ungleichmäßig ist? Warum ziehen Menschen in die Stadt oder aufs Land? Wie konkurrieren Kommunen um Einwohner? Diesen Themen widmet sich heute eine Tagung des Forschungsverbundes Demographischer Wandel und räumliche Mobilität in Wuppertal. Unter dem Motto „Die Stadtregion als Wohnstandort – Kommunen im Wettbewerb um Einwohner“ werden Auswirkungen des demographischen Wandels diskutiert, neueste Ergebnisse präsentiert und Trends untersucht.

Zu diesen Auswirkungen gehört auch die seit Jahren andauernde Abwanderung junger Familien aus den Städten ins Umland. Die Gründe dafür liegen für den Bielefelder Bevölkerungs- und Gesundheitsforscher Ralf Ulrich weniger in einem verstärkten Wunsch nach Natur und Ruhe, sondern hat oftmals finanzielle Gründe. In der Stadt zu leben, sei schlicht zu teuer. Diese Ansicht bestätigen auch Haushaltsbefragungen des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen in Dortmund. „Viele Familien wären gerne in der Stadt geblieben, wenn nicht die Wohnungen und Häuser so teuer wären“, sagt Frank Osterhage, Organisator der Fachtagung in Wuppertal.

Einziger Grund für einen Umzug ist das bessere Preis-Leistungsverhältnis beim Wohnen dennoch nicht. Auch fehlende Arbeitsplätze haben schon so manchen zum Umzug bewogen. Das Ruhrgebiet mit seinen vielen Arbeitslosen hat deshalb seit Jahren schlechte Karten im Kampf um Einwohner. Studien sagen für einige Städte in den nächsten 20 Jahren einen rapiden Bevölkerungsrückgang voraus. Duisburg ist eine von ihnen. Zwischen 1975 und 2003 ist die Bevölkerungszahl um 18 Prozent zurück gegangen, für 2020 wird ein Rückgang um weitere 4 Prozent erwartet.

Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind zum einen sinkende Steuereinnahmen der Kommunen. Zum Anderen besteht die Gefahr, dass sich öffentliche Einrichtungen nicht mehr lohnen, die Infrastruktur einer Stadt zu groß wird. In Duisburg etwa seien die Auswirkungen zwar nicht dramatisch, wie Georg Puhe vom dortigen Stadtentwicklungsamt betont. Es fühle sich eher an „wie ein Mantel, der etwas zu groß ist“. Spürbare Auswirkungen gebe es auf dem Wohnungsmarkt. So würden in unattraktiven Vierteln Häuser abgerissen. Und in den Schulen gehe die Anzahl der Klassen zurück, berichtet Puhe. Um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken, versuche die Stadt Duisburg unter anderem, Logistik- und Dienstleistungsunternehmen anzusiedeln.

„Die Stadtregion als Wohnstandort – Kommunen im Wettbewerb um Einwohner“ lautet der Titel einer Fachtagung, die der Forschungsverbund Demographischer Wandel und räumliche Mobilität NRW heute in Wuppertal durchführt. Wissenschaftler, Stadtentwickler und Kommunalpolitiker diskutieren auf dieser Konferenz die Auswirkungen einer schrumpfenden, älteren und internationaleren Gesellschaft auf die Städte und Regionen in Nordrhein-Westfalen. Dazu werden Ergebnisse aus Praxis und Wissenschaft vorgestellt, unter anderem zu „Essen: Stabilität versus Stadtflucht“ und „Münster: Zurück in die Stadt? Wohnstandortwahl und Lebensstile im Alter“. Weitere Themen sind „Lebensverläufe und räumliche Mobilität“ sowie der „Wettbewerb der Kommunen um Einwohner: Stadtentwicklungspolitik in Zeiten des Demographischen Wandels“. NEL/HHO

Bonn hingegen hat kein Abwanderungsproblem. „Hier gibt es seit 17 Jahren einen Geburtenüberschuss“, berichtet Thomas Böckeler vom Presseamt der Stadt Bonn. Und auch die Bevölkerungsprognosen zeichnen ein positives Bild, wie eine Vorausberechnung der Bevölkerung in den kreisfreien Städten NRWs des Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik herausgefunden hat. Grund für die positive Entwicklung ist laut Böckeler, dass in Bonn viele Dienstleistungsunternehmen wie Post oder Telekom angesiedelt sind. Aber Bonn sei nicht nur wirtschaftlich attraktiv für seine Einwohner. Die Stadt am Rhein habe außerdem viel Grün, zahlreiche Freizeitaktivitäten, eine gute Infrastruktur und Anbindung an die Umgebung zu bieten. Grund genug nach Bonn zu ziehen, findet Böckeler.

Diese ungleiche Bevölkerungsverteilung in Nordrhein-Westfalen könnte sich in ferner Zukunft ändern. „Viele Kommunen und Städte wurden durch die schlechten Prognosen regelrecht wach gerüttelt“, sagt Stadtentwicklungsforscher Osterhage. Sehr schnell allerdings dürfte sich die Abwanderung nicht ändern. „Der Unterschied zwischen beliebten und unbeliebten Regionen wird sich meiner Meinung nach verstärken.“ Am Beispiel von Rheinstädten wie Bonn werde derzeit viel über einen Trend zur Reurbanisierung spekuliert.

In Münster zeichnet sich diese Entwicklung möglicherweise bei älteren Menschen ab. Ziehen sie wieder vermehrt in die Städte? Viele haben entscheidende Vorteile gegenüber ländlichen Gegenden: Es gibt mehr Arztpraxen und bessere Einkaufsmöglichkeiten. Außerdem kann man sich besser ohne Auto bewegen und organisieren. Obwohl sich das bisher statistisch nicht belegen lässt, hält Thomas Hauff vom Stadtentwicklungsamt Münster den Trend für möglich: „Es gibt zumindest einen gefühlten Trend ,Zurück in die Stadt‘ bei älteren Menschen. Vielleicht sehen wir im Moment aber nur die Schaumkrone der Entwicklung und die zahlenmäßige Erfassung kommt hinterher.“

Die „Schaumkrone“, das sind Wohnprojekte für Senioren, die in Münster entstehen, oder Berichte von Immobilienhändlern, die die steigende Nachfrage von Senioren belegen. Aber auch die jetzigen Bewohner sind wichtig. „Wir müssen uns um die Menschen kümmern, die da sind“, betont Hauff. Ihnen müsse man das Altwerden in der Stadt ermöglichen. In Münster würden Stadtteilzentren gestärkt, indem Supermärkte in außerhalb gelegenen Gebieten verhindert und die Niederlassung von Geschäften in den Stadtteilen unterstützt werden. Doch nicht nur um Senioren will sich die Stadt kümmern, auch um Studenten. Davon gibt es zwar einige in Münster, sie ziehen aber nach dem Studium auch wieder weg. „Münster ist für die meisten nicht mehr als eine Durchlaufstation“, sagt Hauff. Um die Studenten auch nach dem Abschluss ihres Studiums in Münster zu halten, möchte ihnen die Stadt berufliche Perspektiven bieten und das Zentrum familienfreundlicher gestalten. Frank Osterhage begrüßt solche Initiativen. „Manche Kommunen schielen so sehr auf die Zahlen, da vergessen sie manchmal die Haushalte, die da sind.“ Manchmal sei die Wahrnehmung von Kommunen da richtig schräg. Seine Botschaft an Städte und Kommunen lautet deshalb, wachsam zu sein für das, was in der Umgebung passiert. „Auf Daten kann man sich ohnehin nur begrenzt verlassen.“