Berlin wird Müllerland

REGIERENDER Ein ewiger Kronprinz wird König. Wer ist der Mann mit dem häufigsten Nachnamen der Republik?

■ 1964 war mit 1,36 Millionen Neugeborenen der geburtenstärkste Jahrgang der Geschichte Nachkriegsdeutschlands. Danach bereitete der Pillenknick dem Babyboom ein Ende. Heute werden nur halb so viel Kinder geboren.

■ Michael war damals nach Thomas der zweitbeliebteste Männervorname im deutschen Sprachraum. Er stammt aus dem Hebräischen und bedeutet „Wer ist wie Gott?“. Namensgeber ist der Erzengel Michael.

■ Müller ist – mit diversen Varianten wie Möller, Muhler oder auch Mahler – der häufigste deutsche Familienname. Nach Angaben des Namenkundlers Jürgen Udolph tragen ihn etwa 700.000 Menschen im deutschen Sprachraum.

■ Statistisch war es also ziemlich wahrscheinlich, dass ein Michael Müller, geboren 1964, irgendwann einmal Bürgermeister von Deutschlands größter Stadt wird. (mbr)

AUS BERLIN
UWE RADA UND BERT SCHULZ

So sieht ein Machtwechsel in Zeiten von Twitter aus: Die Nachricht vom überraschend klaren Sieg Michael Müllers beim SPD-Mitgliedervotum macht schon 30 Minuten lange über die sozialen Netzwerke die Runde, da erst treten die drei Kandidaten in der Berliner Parteizentrale im Stadtteil Wedding vor die Presse.

Ist sich der Senator für Stadtentwicklung bewusst, welch grandiosen Sieg er an diesem Samstagmittag eingefahren hat? „Ich freue mich wahnsinnig“, sagt der 49-Jährige. „Aber ich muss auch sagen: Ich bin ganz platt.“ Neben Müller stehen seine beiden bisherigen innerparteilichen Konkurrenten um die Nachfolge Klaus Wowereits als Regierender Bürgermeister, lächeln etwas mühsam, gratulieren pflichtbewusst.

Kaum jemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet. Müllers politische Umgebung hatte auf „40 plus“ spekuliert. Schon auf einen Sieg also – aber nicht auf so einen: 59,1 Prozent der Berliner Genossinnen und Genossen wollen den Stadtentwicklungssenator ins Rote Rathaus befördern. Knapp zwei Drittel der rund 17.200 SPD-Mitglieder hatten sich beteiligt. Stöß und Saleh landeten mit 20,8 und 18,6 Prozent abgeschlagen auf den Plätzen zwei und drei. Am 11. Dezember soll das Abgeordnetenhaus Müller zu Landesvater wählen.

Der ewige Kronprinz hat es geschafft – obwohl ihn die meisten in seiner Partei schon abgeschrieben hatten. 2012 war der gelernte Drucker, der seit 2001 als Fraktionsvorsitzender und seit 2004 als Landeschef Wowereit den Rücken freigehalten hatte, von den SPD-Funktionären aus letzterer Position gedrängt worden. Er kommuniziere zu wenig, bespreche wichtige Dinge lieber im kleinen Kreis, als die Partei einzubinden, hieß es. SPD-Chef wurde jener Jan Stöß, der nun von der Parteibasis die Retourkutsche bekommen hat.

Zehn Tage vor der Auszählung waren die drei Kandidaten noch einmal im Kreiskulturhaus von Berlin-Karlshorst zusammengekommen. Tiefer bürgerlicher Osten. Müller trug einen schwarzen Anzug, hellblaues Hemd, keine Krawatte. Die randlose Brille haben ihm seine Berater vor ein paar Jahren verpasst, er solle etwas dynamischer wirken, ohne dabei irgendwie nerdig auszusehen. „Viele sagen, ich gucke immer so ernst“, scherzte der Kandidat und trieb die Selbstironie noch ein wenig weiter. „Das wird auch nicht besser, aber darum geht es auch nicht.“

Es geht um die Wahl 2016

Was ansteht, formulierte Müller so: „Es geht bei uns dreien nicht um den nächsten Karriereschritt, sondern um die spannende Frage, wie wir die Abgeordnetenhauswahl 2016 bestehen.“ Offenbar waren sich die SPD-Mitglieder einig, dass der rhetorisch versierte, erfahrene und verlässliche Müller bei den Wählerinnen und Wählern besser ankommt als der etwas hölzern wirkende Stöß und der zu Anbiederung neigende Saleh.

Auf Wowereit mit seinem Glamourfaktor folgt einer, der sich selbst mal als „ehrliche Haut“ bezeichnet hat. Aber es ist ein anderer Müller als der, der bereits vor seiner Entmachtung 2012 als Nachfolger gehandelt worden war. Als es 2009 schon einmal um den Posten ging – damals wurde über einen Wechsel Wowereits ins Bundeskabinett spekuliert –, kannten nur 9 Prozent der Berliner den geborenen Tempelhofer, der kein Abitur hat und sich peu à peu nach oben gearbeitet hat. Blass sei er, hieß es schon damals – und die Genossen atmeten auf, als feststand, dass ihr „Wowi“ doch im Roten Rathaus bleiben würde.

Doch den Müller, der nach Wowereits Rücktrittsankündigung im Sommer seinen Hut als letzter der drei Kontrahenten in den Ring geworden hatte, erkannten viele nicht wieder. Drei Jahre als Senator haben ihn verändert. Er hat das von der SPD lange vernachlässigte Feld Mietenpolitik beackert, den Wohnungsbau vorangetrieben, ist aus dem Schatten des ewigen Kronprinzen herausgetreten. Er wirkt selbstsicher, zeigt Humor. Müller wird nicht mehr an anderen gemessen. Vielmehr mussten sich seine beiden Mitbewerber an ihm messen.

Dabei hatte es trotz Favoritenrolle lange nicht so ausgesehen, als würde Müller es im ersten Wahlgang schaffen. Zwei Tage nach dem Mitgliederforum in Karlshorst musste die SPD eingestehen, dass die Beteiligung doch nicht so hoch war, wie zuvor stolz verkündet. Die Post hatte sich verzählt: Statt 10.000 hatten nur ca. 7.000 Sozialdemokraten ihre Stimme abgegeben. Dabei galt: Je höher die Wahlbeteiligung, desto besser die Chancen für Müller. Blieben die Funktionäre bei der Abstimmung dagegen weitgehend unter sich, stiegen die Chancen von Stöß. Umso überraschender war das Ergebnis. Im Grunde hatten sich bereits alle drei Kandidaten auf einen zweiten Wahlgang eingerichtet.

Müller hat das lange vernachlässigte Feld Mietenpolitik beackert und den Wohnungsbau vorangetrieben

Nun aber wird Berlin Müllerland. Viel Zeit, den Erfolg zu genießen, hat der Sieger nicht. Wenn er am 11. Dezember mit den Stimmen der CDU zum „Regierenden“ gewählt wird, warten bereits die ersten dicken Bretter. Die Neuverhandlung des Länderfinanzausgleichs steht an, die nächste Sitzung des Aufsichtsrats des Pleitenflughafens BER. Müller hat darüber hinaus angekündigt, die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen voranzutreiben. „Berlin hat viele freie Flächen, das unterscheidet uns von anderen Metropolen.“

Und Müller hat es mit einer gegenüber der SPD zunehmend skeptischen Bevölkerung zu tun. Schon im Wahlkampf 2011 waren Mietsteigerung und die drohende Verdrängung ärmerer Schichten an den Stadtrand ein großes Thema. Im Verlauf des Mitgliederentscheids hat sich gezeigt, wie alle drei Kandidaten zu Abschluss des Wahlkampfs bilanzierten, dass es das mit Abstand wichtigste Anliegen der SPD-Basis ist. Müller ist, als langjähriger Landes- und Fraktionschef, nicht unschuldig daran, dass die Partei dieses Thema viel zu lange ignoriert hat. Darf man ausgerechnet ihm zutrauen, so fragen sich viele Berliner, es tatsächlich anzugehen?

Immerhin: Die CDU, die seit den Wahlen 2011 als Juniorpartner mit der SPD regiert, hält zu Müller. Sie hat bereits angekündigt, nicht am rot-schwarzen Bündnis zu rütteln. Neuwahlen hatte CDU-Chef und Innensenator Frank Henkel nach dem Wowereit-Rückzug abgelehnt. Allerdings will Henkel seine CDU bei den Wahlen 2016 zur stärksten Partei machen. In den Umfragen liegen die Christdemokraten jetzt schon vorn, der BER hat Wowereit viele Sympathien und die SPD viele Stimmen gekostet.

Während Noch-Landeschef Jan Stöß angekündigt hatte, im Falle eines CDU-Wahlsiegs stehe die SPD nicht als Juniorpartner zur Verfügung, hatte sich Müller alle Optionen offengehalten. Auch Rot-Rot-Grün, heißt es aus seinem Umfeld, sei mit ihm möglich. Zu dem Linken-Landeschef Klaus Lederer pflegt Müller ein freundschaftliches Verhältnis, und die Grünen haben ohnehin auf Müller als Sieger gesetzt. Wowereit war dagegen für die Landesgrünen immer ein rotes Tuch gewesen.

Nun aber geht es für Müller erst einmal darum, sich einen Amtsbonus zu erwerben. Um bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Herbst 2016 bestehen zu können, muss sich der langjährige Kronprinz, der schon abgemeldet war und dann als selbstbewusster Kandidat das Rennen machte, noch einmal neu erfinden. Dann muss Michael Müller, der immer noch einen Hang zum Introvertierten hat, den Wahlkämpfer der Berliner SPD geben. Nicht wenige glauben, dass er das schafft.