Der Spatz als Lernhilfe

In der Bildungspolitik wird fast ausschließlich die „Hardware“ diskutiert: Ganztagsschulen, Gemeinschaftsschule, Durchlässigkeit des Schulsystems. Doch immer mehr Lehrer und Hochschuldozenten in Baden-Württemberg beklagen Defizite in der „Software“ – Schülern und Studenten mangele es häufig an der Fähigkeit zum strukturierten Denken und Arbeiten. Die Kontext:Wochenzeitung will dazu ein neues Projekt zur Diskussion stellen

von Rainer Nübel

Die Frage klingt, zugegeben, ziemlich merkwürdig, fast schon bescheuert. „Gibt es einen Vogel, oder haben wir den nur im Kopf?“ Die Gesichter der Stuttgarter Oberstufen-Gymnasiasten sind ein einziges Fragezeichen. Was soll das denn, wie meint der da vorne das nur? Nach etwa fünf Schweigeminuten und denkbar irritierten Blicken an die Decke des Klassenzimmers oder wahlweise aus dem Fenster streckt sich doch ein erster Finger in die Höhe. „Geht es darum, einen Vogel zu haben, einen im Kopf, also ein bisschen blöde zu sein?“ Als der da vorne schmunzelnd den Kopf schüttelt, schauen die Schüler noch ratloser und versinken erneut in dumpfes Brüten. Zum Glück fliegt in diesem Moment draußen ein Spatz vorbei. Diesen kleinen Lernhelfer hat der Himmel geschickt. Sonst hätte der da vorne ihn spätestens jetzt aus dem didaktischen Hut zaubern müssen.

Was ist der Vogel? Und was der Spatz, die Meise, der Rotkopfwürger, der Adler oder der Geier? Ah, ja. Ach so. Plötzlich wird es blitzehell, im Klassenraum scheinen ganze Kronleuchter anzugehen. „Vogel ist der Überbegriff“, jubiliert eine Oberstuflerin. Auch ihre Mitschüler zwitschern jetzt munter drauflos. „Und der Spatz ist ein ganz konkreter Vogel.“ „Ein einzelner Vertreter der Gattung.“ Bingo. Der fremde Gast, der sich als Journalist vorgestellt hat, nimmt die Kreide in die Hand. „Vogel“ schreibt er ganz oben an die Tafel, daneben „Überbegriff“ und „Allgemeines“. Unten schreibt er „Spatz“ hin und „Meise“, daneben „Konkretes“.

Und, fragt er dann, gibt es jetzt den Vogel – oder nur den Spatz oder die Meise? „Eigentlich gibt es nur den Spatz oder die Meise, beide kann man sehen und in die Hand nehmen“, meint ein Schüler, „der Vogel ist dagegen eher etwas Abstraktes.“ Ein anderer meldet Widerspruch an: „Aber den Vogel gibt es doch auch. Es ist ein Tier, das fliegen kann und Federn hat, man kann ihn klar definieren.“

Die Philosophen im Clinch – wegen eines Vogels

Der Mann an der Tafel strahlt. „Jetzt habt ihr's. Genau diese Diskussion wird unter Denkern seit Jahrhunderten geführt, da flogen mitunter sogar die Fetzen.“ Als sich in den Gesichtern der Gymnasiasten neue Fragezeichen abzeichnen, erklärt der Gast: „Die einen sagten, nur der Allgemeinbegriff sei real, sozusagen der Vogel, die Idee – für die anderen waren nur die einzelnen Dinge real, also der Spatz und die Meise, das Konkrete.“ An der Tübinger Uni seien sich die Vertreter beider Positionen früher so spinnefeind gewesen, dass sie sich nicht begegnen wollten. Und daher habe man am Philosophischen Institut zwei Eingänge gebaut. Ungläubige Blicke in der Klasse. Wegen eines Vogels?

Jetzt nimmt der Mann an der Tafel wieder die Kreide in die Hand. Er zieht eine Linie vom Wort „Allgemeines“ zu „Konkretes“. Es gebe noch eine dritte, sehr wichtige Denkposition. „Die geht so: Das Allgemeine, die Idee ist real, doch sie steckt in den Dingen, im Konkreten – und das Konkrete im Allgemeinen. Also: der Vogel im Spatz, der Spatz im Vogel.“ Diese Position gehe übrigens auf den alten Aristoteles zurück.

Und was soll das Ganze?, blinzelt es skeptisch aus den Fragezeichen-Gesichtern. „Das bedeutet zum Beispiel: Frieden ist eine Idee, eine sehr wichtige, es gibt sie, real – doch sie muss sich im Konkreten, im Einzelnen und Besonderen zeigen und gelebt werden. Im Alltag, zwischen zwei Menschen, in einer Schulklasse, in einer Gruppe, in einer Gesellschaft, zwischen Staaten.“ Der Mann an der Tafel redet sich heiß. „Oder nehmt die Toleranz oder die Demokratie oder die Liebe oder Fairness, oder…“ Jetzt ist die Passion etwas mit ihm durchgegangen. Doch immer mehr Fragezeichen-Mienen hellen sich auf. Ein Finger zuckt: „Das heißt, es reicht nicht nur, so was wie Toleranz als Idee zu denken, sondern man sollte sie umsetzen, ganz konkret? Ist es das?“ Der Tafel-Mann nickt. „Ja, und so wird im Einzelnen, im direkten Handeln eines Menschen, die Toleranz als Idee erkennbar. Das Allgemeine im Konkreten, das Konkrete im Allgemeinen.“

Der Vogel scheint gelandet. Und auch der Spatz. „Nach genau demselben Prinzip funktioniert eine gute Geschichte oder eine Reportage“, sagt der Mann an der Tafel, der sich als Journalist vorgestellt hat. Und jetzt streichen die Oberstufler die letzten Fragezeichen aus ihren Gesichtern. „Klar“, sagt einer, „eine Geschichte wird dann spannend, wenn sie ganz konkret erzählt wird, zum Beispiel was genau passiert ist oder wie jemand aussieht.“ Er überlegt. „Dann schnalle ich auch das Thema, um das es geht, gell?“ Eine Schülerin feixt: „Ist das Thema dann der Vogel?“

Der da vorne nickt wieder. Und sieht sich in seiner didaktischen Mission jetzt ganz vorne. „Beim Lernen, also bei dem, was ihr macht, ist es genauso. Wenn in irgendeinem Fach ein neues Thema behandelt wird, eine Klausur oder eine schriftliche Ausarbeitung ansteht, habt ihr im Laufe der Zeit eine Menge konkreter Informationen beieinander. Und dann geht es darum: Wie zeigt sich das Thema in den einzelnen Informationen? Und was sind die einzelnen Dinge, an denen ich das Thema besonders griffig festmachen kann?“ Der Möchtegern-Aristoteles an der Tafel hebt den Finger: „Wer so vorgeht, lernt schneller und effektiver – und er zeigt den Lehrern, dass er's kapiert hat. Und dass er ein Thema strukturieren kann.“

Mehrere Gymnasialklassen in Baden-Württemberg wurden von uns in den vergangenen Monaten bereits mit dieser Lernmethode traktiert. Neben „Lernen als Recherche“ (siehe dazu „Sind Hauptschüler bessere Analytiker?“ in der Rubrik „Pulsschlag“) ist das ein weiteres Projekt, mit dem die Kontext:Wochenzeitung in Schulen geht und es kostenlos anbietet und umsetzt.

Es geht um die Vermittlung von Denkstrukturen und -mustern, die das Lernen fördern sollen, letztlich um vernetztes Denken. Der Ansatz, strukturiert denken und arbeiten zu können, ist eine Kernkompetenz in der schulischen wie in jeder anderen Art von Ausbildung. Und in jedem Beruf. Laut Bildungsstudien und der Erfahrung vieler Lehrer und Ausbilder sind jedoch bei vielen Schülern gerade in diesem zentralen Kompetenzbereich Defizite festzustellen.

Es mangelt demnach häufig an der Fähigkeit, etwa die Idee eines Textes an seinen ganz konkreten Strukturen zu erkennen und beschreiben zu können oder hinter der konkreten Gleichung das mathematische Prinzip zu realisieren. Derweil beklagen nicht nur Lehrer, sondern auch immer mehr Dozenten an Hochschulen und Universitäten, dass schriftliche Arbeiten ihrer Studenten häufig unstrukturiert daherkommen, „wie Kraut und Rüben“. Seminare, die dieses Defizit beheben sollen, sind ein Renner bei Studenten.

Offensichtlich spielt eben nicht nur die bildungspolitisch primär diskutierte Hardware wie etwa die Einrichtung von Ganztagsschulen eine wichtige Rolle, sondern auch die Frage, ob es auch in der Software an Schulen Änderungen geben sollte oder muss. Die Vermittlung von Kompetenzen und Lernmethoden steht zwar prominent in den Bildungsplänen, worauf gerne auch der ehemalige Lehrer und heutige Ministerpräsident Winfried Kretschmann verweist. Doch auf Knopfdruck oder Kommando lassen sich solche Fähigkeiten nicht abrufen – man muss sie lehren und lernen.

„Ist das jetzt die Vogel- oder die Spatzebene?“ „Ich glaube, ich brauche für meine GFS noch mehr Spatzen oder Meisen.“ In etlichen Schulklassen, die wir in den vergangenen Wochen besucht haben, kursieren inzwischen tierisch merkwürdige Codesätze. Egal, ob es um Gedichtinterpretation geht, die Französische Revolution oder die Weimarer Republik, die Globalisierung, das Klima in Afrika, das deutsche Wahlrecht oder die Entwicklung des Musicals. Die Schüler lächeln dabei souverän: Wir haben verstanden.

Wenn mitten im Sommer Winter ist

Neben dem Vogel-Spatz-Prinzip vermittelt das Bildungsprojekt weitere elementare Denkstrukturen. Sie finden sich sowohl in der Literatur und in anderen musischen Fächern als auch im Alltag und nicht selten in den Naturwissenschaften, in Ökonomie und Ökologie wieder. Es handelt sich um tradierte Lebens- und Denkmuster, die in der breiten öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschüttgegangen sind, jedoch eine verblüffende Aktualität haben – wenn man sie ganz konkret wieder wahrnimmt.

Der Bezug von Zeit und Raum ist solch ein Thema. Und der von außen und innen. Der Wechsel von Jahreszeiten wird, trotz Fußbodenheizung und Sonnenstudios, zwar heute noch wahrgenommen. Doch kaum mehr bewusst ist, dass und wie sich das Außen der Natur auf das Innere des Menschen bezieht. Im tradierten Denken und in der Literatur steht der Sommer für Freude und Kommunikation, der Winter für Trauer und Isolation. Das kapiert jedes Schulkind, man kennt’s aus fröhlichen Sommer- und melancholischen Winterliedern. Spannend wird dieses Jahreszeitenschema aber, wenn Dynamik reinkommt und Gegensätze aufbrechen. Wenn mitten im kalten Winter ein Ros’ entsprungen ist – was die christliche „Idee“ so konkret werden lässt. Oder aber, erschütternd existenziell, wenn mitten im Sommer plötzlich das Leben gefriert.

Hölderlins berühmtes Gedicht „Hälfte des Lebens“ steht dafür: In der ersten Strophe ein harmonisches Spätsommerbild mit gelben Birnen, wilden Rosen und dem Land, das in den See ragt. Und den Schwänen, die ihr Haupt ins heilignüchterne Wasser senken. Dann, in der zweiten Strophe, der krasse Kontrast: ein frierendes, zerrissenes Ich, das den Winter fürchtet, im Winde klirren, hörbar kalt, die Fahnen. Ein Leben am Gefrierpunkt. Als wir in einer Berufsschule dieses Lebens- und Denkmuster am Hölderlin-Gedicht vorstellen, sagt eine angehende Altenpflegerin: „Das kenne ich vom Heim. Die alten Menschen sind dann besonders traurig, wenn es draußen schön ist, sich alle freuen, sie aber allein sind und nicht dazugehören.“

Ein zweites Beispiel: Seit Menschengedenken gibt es die (Lebens-)Symbolik von Weg und Kreis. Im historischen oder religiösen Denken spielen beide Strukturen eine wichtige Rolle, aber auch in der Musik, Biologie, Ökologie oder Ökonomie. Und, natürlich, in der Mathematik. Heute dominiert das Weg-Denken („Immer mehr, immer weiter“, „Der Weg ist das Ziel“), eher negativ besetzt ist der Kreis, das Zyklische, vor allem, wenn es sich um einen „Teufelskreis“ handelt. Vermittelt man jedoch den Bezug von Weg und Kreis, von linearem und zyklischem Denken, horchen Schüler auf: Nicht der Weg, sondern der Kreis steht, seit jeher, für das Ganze – der Weg ist nur ein Teil des Kreises. „Klar, der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende, er ist ganz.“ Die Musik kommt ins Spiel: der Zweierrhythmus, der Marsch, der Weg – und dagegen der Walzer, der Dreierrhythmus, der Kreis.

Das Ganze und die Heilige Dreifaltigkeit

Bei der Zahl Drei spinnen die Schüler selbst rasch das Netz: Hattrick, Gold, Silber und Bronze, Einigkeit und Recht und Freiheit, aller guten Dinge sind drei, die Dreiecksbeziehung (von älteren Schülern meist feixend ins Feld geführt), quadratisch, praktisch, gut – und, ja, ach so, die Heilige Dreieinigkeit. Das Ganze, da ist es wieder.

Und da ist noch der Kreis als altes Motiv des Glücks und des Schicksals. Das sich ständig drehende Rad, von der blinden Fortuna angetrieben, auf und nieder, immer wieder, heute noch bruchstückhaft präsent im Glücksrad, im Roulette oder in Fortuna Düsseldorf. Oder in Hesses „Unterm Rad“. Den Schülern wird's ganz schwindlig. Der Mann an der Tafel schmunzelt: „Ihr seht, Denken ist Glückssache.“