Zug um Zug durch den Dschungel

Auch ein Jahr nach der Eröffnung des Hauptbahnhofs hat die kirchliche Bahnhofsmission alle Hände voll zu tun. Denn noch immer brauchen viele Reisende Hilfe, um sich in dem Gebäude zurechtzufinden

Von JENS GRÄBER

Bei der Bahnhofsmission im Berliner Hauptbahnhof klingelt lautstark das Telefon. Mutlu Turac nimmt den Hörer ab: „Die Frau ist schon da? Ich komme gleich.“ Seit einem Jahr ist der gläserne Hauptstadtbahnhof inzwischen in Betrieb, seit März leistet Turac seinen Zivildienst bei der Bahnhofsmission. Er kennt sich in dem riesigen Bau aus Glas und Stahl bestens aus, die Orientierung sei ihm nicht schwer gefallen, sagt er. Das geht längst nicht jedem so. Junge und alte Menschen fänden jeden Tag den Weg zu ihm, sagt Turac. „Die fragen: wo ist hier das Gleis oder wo ist hier der Ausgang.“

Turac begleitet Reisende beim Ein-, Um- und Aussteigen. Viele alte Menschen, Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer – und Zugreisende, die sich alleine nicht zurechtfinden oder das zumindest fürchten. Auf einem kleinen Spickzettel hat er die wichtigsten Informationen über den nächsten hilfebedürftigen Bahnkunden immer dabei: Name, Gleis, Zugnummer, Wagennummer und Fahrtziel.

Am Service-Point Nord wartet Rentnerin Margarete Baltzer darauf, dass der 24-Jährige sie und ihre zwei schwarzen Koffer zu ihrem Zug an Gleis 14 im ersten Stock des Bahnhofs bringt. Sie will zur Taufe ihres Enkels nach Edinburgh in England fliegen und muss dazu erst mit dem Zug nach Frankfurt am Main fahren. Von innen sei der Bahnhof einfach zu groß, findet sie. Zweimal sei sie schon dort gewesen, nur um sich dann beim Antritt ihrer Reise besser zurechtzufinden – genützt habe es aber nichts. Inzwischen hat sie es aufgegeben: „Es gibt so unglaublich viele Rolltreppen und Fahrstühle. Und die Schrift auf vielen Anzeigetafeln ist zu klein, die kann ich nicht lesen.“ Deshalb lasse sie sich nun von der Bahnhofsmission begleiten.

Etwa 300.000 Reisende betreten täglich den Bahnhof, 1.100 Züge durchqueren ihn, die Hälfte davon sind Fernzüge. Kritik gab es schon früher, an den langen Wegen und fehlenden Orientierungsmöglichkeiten für Reisende. Bei Letzteren habe die Bahn nachgebessert, sagt eine Sprecherin. So gebe es schon seit Herbst des vergangenen Jahres einen zweiten Service Point und eine zweite große Anzeigetafel am Ausgang Richtung Washingtonstraße. Außerdem seien mehr kleine Displays an den Treppen zu den Gleisen installiert und das Servicepersonal aufgestockt worden. Christian Block, Leiter der Bahnhofsmission, sagt dennoch: „Verringert hat sich die Zahl der Menschen, die sich ohne unsere Hilfe nicht zurechtfinden, seit Eröffnung des Bahnhofs nicht.“ Zivi Turac spürt die anhaltende Orientierungslosigkeit der Reisenden ebenfalls, nicht nur bei denen, die er begleitet. „Wenn wir unterwegs angesprochen werden, geht es meistens darum, dass Leute den Weg nicht finden“, sagt er.

Am Gleis angekommen, muss Rentnerin Baltzer noch eine Viertelstunde auf ihren Zug warten. Sie setzt sich auf eine Bank und fängt an zu erzählen, von früher: „Der Bahnhof Zoo war übersichtlicher und bequemer, obwohl es auf den zwei Bahnsteigen immer sehr voll war und man aufpassen musste. Aber dort musste man jedenfalls nicht so weit laufen wie hier.“ Dann hält mit lautem Quietschen ihr Zug, Zivi Turac bringt sie zu ihrem Platz, dann muss er weiter.

Der 24-Jährige ist auf dem Weg zum Gleis 12 im ersten Stock, denn dort wird gleich Ulrike Beckering aus dem Intercity-Express aus Frankfurt steigen. Sie will nach Usedom und hat die Umsteige-Hilfe bestellt, weil sie alleine mit ihren zwei Kindern – eins sitzt noch im Kinderwagen – und ihrem Gepäck unterwegs ist. Sie muss zum Gleis 8 im Untergeschoss des Bahnhofs. Mütter und Familien, die sich beim Umsteigen mit Nachwuchs und Koffern überfordert fühlten, seien neben Gehbehinderten und Rollstuhlfahrern die Gruppe,die er am häufigsten begleite, sagt der Zivi.

Wie viel Zeit er mit den Hilfesuchenden zum Umsteigen hat, steht auf Turacs Spickzettel. Das schaue er immer vorher nach, erklärt er. Dieses Mal sind es 20 Minuten – kein Problem, sagt Turac. Wer mit Rollstuhl oder Kinderwagen umsteigen müsse, solle das aber besser bei der Planung der Reise schon berücksichtigen. Zehn Minuten oder weniger – bei der Bahn durchaus übliche Zeitfenster zum Umsteigen – seien am Berliner Hauptbahnhof oft nicht genug. „Das Problem ist, dass die Aufzüge so langsam und oft schon voll sind“, stimmt sein Kollege Peer Baldauf zu. „Manchmal muss ich Leute aus den Fahrstühlen rauswerfen, wenn ich den Platz brauche und die Zeit knapp ist – mit einem Rollstuhlfahrer kann ich nicht die Treppe nehmen“, ergänzt Turac.

Am Gleis 8 angekommen, heben Baldauf und Turac den Kinderwagen in den wartenden Regionalzug. Beckering ist froh, dass sie den Begleitservice der Bahnhofsmission in Anspruch genommen hat – nicht nur wegen der Kinder und des Gepäcks. Die schiere Größe des Bahnhofs wirke verwirrend, findet sie. Und fügt hinzu: „Alleine wollte ich hier nicht unterwegs sein.“