Einmal wie Ötzi

„Steinzeit, das Experiment“ (So, 21.45 Uhr, ARD) will nicht die x-te Zeitreise-Doku sein, sondern Geschichtsforschung

Versteckt liegt das Pfahlbaudörfchen irgendwo in der Nähe des Bodensees. Es schüttet Tag und Nacht. „So macht es wirklich keinen Spaß“, jammert der Mittfünfziger Ingo in seiner Steinzeitkluft. Auch der zottelige Familienvater Martin hat die Schnauze voll: „Sobald der Erste eine Lungenentzündung hat, gehen wir alle.“ Kurz nach dem Start des neuen ARD-Zeitreise-Abenteuers präsentiert sich das Wetter von seiner umbarmherzigsten Seite. Der August 2006, in dem „Steinzeit – Das Experiment“ stattfindet, sollte der kälteste seit Jahrzehnten werden. Mittendrin zwei fünfköpfige Jungfamilien, zwei Junggesellen und eine Omi.

Nach dem Grimmepreis-dekorierten „Schwarzwaldhaus 1902“ und Abstechern ins Gutshaus und in die Bräuteschule, vollführt die ARD-Zeitmaschine ihren größten Sprung in die Vergangenheit. Den Boom des gern als pädagogisch wertvoll vermarkteten „living history“-Fernsehens konnte auch die bei den Zuschauern abgesoffene Dokuserie „Windstärke 8“ nicht stoppen. Im Gegenteil: Das Auswandererschiff taucht im Juni erneut im Vorabendprogramm auf.

Der öffentlich-rechtliche Besuch im Neolithikum soll nun gar die Geburtsstunde eines neuen Genres markieren: Die Macher vom SWR feiern den Vierteiler als „living science“, quasi als miterlebbare Geschichtsforschung. Das freut vor allem Wissenschafter. Bisher konnten sie das Leben der Menschen vor 5.000 Jahren nur an Skeletten studieren, endlich stehen den Sportmedizinern, Humangenetikern und Kieferchirurgen lebendige Anschauungsobjekte zur Verfügung. Dazu bekommen alle Dorfbewohner einen Aktometer umgeschnallt. Dieser misst den Kalorienverbrauch, die Schlafdauer und die körperliche Aktivität. Außerdem wollen die Forscher klären, wie gesund steinzeitliches Essen ist und ob sich die Alpen in grasgefütterten Fellschuhen überqueren lassen. Diesen Beweis müssen Landschaftsgärtner Henning und Lebenskünstler Ingo antreten. Sie sollen auf Ötzis Spuren 300 Kilometer vom Bodensee nach Südtirol wandern.

Im Camp versäumen sie derweil nicht viel. Die Kinder erleben allen Widrigkeiten zum Trotz einen Sommer à la Bullerbü, während sich die Erwachsenen damit plagen, mehr als rohe Erbsen im lauwarmen Wasser aufzutischen. Bevor es richtig authentisch wird, greift das Produktionsteam ein: Es verhüllt die löchrigen Dächer der Hütten mit Plastikplanen, bringt Daunendecken für die Nachtlager der durchnässten Möchtegern-Ötzis und schickt Getreide, das sich leichter mahlen lässt. Wenn als Highlight des Tages der erfolgreiche Hechtfang im dorfeigenen Weiher zu verbuchen ist, kann das Steinzeit-Experiment locker mit dem Spannungsfaktor einer „Big Brother“-Tageszusammenfassung mithalten.

Einer der ersten Termine nach der Rückkehr in die Jetztzeit war für die 13-köpfige Großfamilie der Besuch beim Zahnarzt. Obwohl Industriezucker zwei Monate Pause hatte, machte sich Karies breit – das konnte auch die regelmäßige Zahnpflege mit Hölzchen nicht verhindern.

MARTIN LANGEDER

Weitere Folgen: „Der Aufbruch“ (28. Mai, 21.45 Uhr), „Auf Ötzis Spuren“ (4. Juni, 21 Uhr) und „Die Heimkehr“ (11. Juni, 21 Uhr), jeweils ARD