Das erste Mal im Polsterhimmel

LYRISCHES ICH: Beim 12. Poesiefestival der Literaturwerkstatt Berlin konnte man sich mal wieder mit aktuellen Tendenzen in der zeitgenössischen Dichtung auseinandersetzen

Billy Collins selbst und sein Autoren-Ich sind keineswegs deckungsgleich: Er trinkt „lieber Kaffee“, sein Lyrisches Ich „lieber Tee“

VON ANDREAS RESCH

Ein wenig schade ist es schon, dass die „Weltklang – Nacht der Poesie“ nicht mehr, wie in den vergangenen Jahren, in der Akademie der Künste am Hanseatenweg stattfand, sondern im Maxim Gorki Theater. Denn während man dort dicht aneinander gedrängt saß, überstand man in dem riesigen Akademiesaal die nicht selten vierstündige Marathonsitzung schon mal ohne Nackenstarre. Das zeitenthobene Hanseatenweg-Ambiente passte auch extrem gut zu einer Veranstaltung, die den Zuschauer in ihren besten Momenten in einen wundervoll zeitenthobenen Bewusstseinszustand versetzen kann.

Brachiale Reimkaskaden

Vielleicht hing es ja mit dieser räumlichen Veränderung zusammen, dass die diesjährige „Weltklang“-Ausgabe, mit der am Freitagabend traditionsgemäß das Poesiefestival Berlin eröffnet wurde, gefühlt hinter jenen Nächten in der Vergangenheit zurückblieb. Dabei schien die Lesung, jedenfalls dem gedruckten Programm nach zu urteilen, so abwechslungsreich wie lange nicht mehr zu werden.

Auf der einen Seite die Crème de la Crème der internationalen Dichtkunst: der 88-jährige Yves Bonnefoy, der 1981 nach Roland Barthes’ Tod dessen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaften am Collège de France übernommen hatte. Oder Kim Hyesoon, die wohl bedeutendste lebende Dichterin Südkoreas. Oder die Deutsche Kathrin Schmidt. Auf der anderen Seite Revoluzzer wie der junge Tunesier El Général oder der kubanische Liedermacher Silvio Rodríguez. Doch irgendwie waren an diesem Abend diese Gegensätze zu groß, die dichterischen Ansätze zu unterschiedlich.

So verloren sich die ruhig vorgetragenen, sprachlich und gedanklich komplexen Gedichte von Bonnefoy, Kim Hyesoon und Schmidt im Tosen der ungeschlachten und zudem brachial lauten Reimkaskaden eines El Général. Mag ja sein, dass der junge Rapper zu einem Sprachrohr der jungen Tunesier geworden ist und er somit menschgewordenes Symbol für die gesellschaftspolitische Kraft des Verses ist: Seine Texte waren – zumindest in der Übersetzung – derart unoriginell, dass man sich fragte, was die ansonsten so auswahlsicheren Organisatoren bewogen haben mag, den jungen Mann mit ins Programm aufzunehmen. Sollte dies dem Festival-Schwerpunkt zur Lyrik in der „Neuen Arabischen Welt“ geschuldet gewesen sei, so hätte ein weitaus variantenreicherer Rapper wie der Ägypter Deeb sicherlich besser hineingepasst.

Ähnlich verhielt es sich mit Silvio Rodríguez, der eine riesige Fangemeinde im Publikum hatte, die sich bemüßigt fühlte, jedes Räuspern mit schrillen Jubelschreien zu goutieren. Seine mal mit, mal ohne Gitarrenbegleitung vorgetragenen Texte waren jedoch, um es mit Rodríguez’ Worten selbst zu sagen, „eine Welt aus Nippes und Tand“.

Zum Glück gab es da noch Marcel Beyer, dem es neben dem Amerikaner Billy Collins und dem Niederländer Tsead Brujnja als einem der wenigen gelang, sprachliche Komplexität und ergreifende Performance zusammenzubringen. Etwa im klar und rhythmisiert vorgetragenen „Polsterhimmel“: „Als wir das erste Mal im / Polsterhimmel waren, / der Blick glitt über sanfte / Wohnlandschaften hin“.

Neben Poesiefestival-Klassikern wie der „e.poesie“ und dem „Versschmuggel“ gibt es in diesem Jahr auch ein neues Veranstaltungsformat, den „Dichtraum, Denkraum“. Dieser bringt Dichtkunst in den öffentlichen Raum, nämlich ans Brandenburger Tor, wo sich täglich Lyriker wie Ursula Krechel, Ulf Stolterfoht oder Ulrike Draesner ihrem Publikum stellen.

Das Schönste am Poesiefestival sind jedoch noch immer die Poesiegespräche – jenes Format also, welches das Diskutieren über Texte, das hierzulande jenseits des akademischen Diskurses oft nur als Appendix zur literarischen Lesung existiert, in den Mittelpunkt rückt. So sprach zum Beispiel der der New Yorker Billy Collins mit dem Lyriker Ron Winkler, seinem deutschen Übersetzer, über sein Schreiben. Dabei verriet er, dass er selbst und sein Autoren-Ich nicht unbedingt deckungsgleich seien. Während er nämlich „lieber Kaffee trinke“, trinke sein Lyrisches Ich „lieber Tee“. Zudem habe sein Autoren-Ich „keinen Tag in seinem Leben gearbeitet“ und „reise auch nicht in Flugzeugen“ auf irgendwelche Festivals. Und wie Collins da so über sein Alter Ego fabulierte, war das ein Anflug schönster spontaner Poesie, der zudem einiges über die nie gänzlich ausbleibende Selbststilisierung des Dichters beim Schreiben offenbarte.

■ Das Poesiefestival Berlin 2011 läuft noch bis zum kommenden Freitag, den 24. Juni. Infos unter www.literaturwerkstatt.org