Das Gute soll das Schlechte heilen

Elf Karmelitinnen leben im Kloster Regina Martyrum. Seit 25 Jahren betreuen sie die Gedenkstätte in Plötzensee. Eigentlich gilt ihre Ordensgemeinschaft als streng kontemplativ. Aber die Charlottenburger Schwestern sind auch weltoffen – und politisch

VON WALTRAUD SCHWAB

Die Krypta der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum in Plötzensee ist karg. Blanke Betonwände, Holzbänke und eine Stille, die wie schwerer Samt jenen Rest von Alltag dämpft, den die Menschen hereintragen. Im halbdunklen Schweigen warten Schwester Maria-Teresia und Schwester Mechthild auf den Beginn der Abendandacht. Nach und nach kommen weitere Nonnen des Karmelitinnenklosters, das neben der Kirche liegt. Sie nehmen neben dem Altar Platz, hinter dem ein Wandteppich hängt. Ein Kreuz, mehr aufgehaltene Hand als Geometrie, und eine Sonne schälen sich gewaltig aus dem erdtonfarbenen Gewebe heraus. Das Kreuz trägt das Licht.

Die Vesper ist der letzte Gottesdienst des Tages. „Oh Gott, komm uns zu Hilfe“, singen die Schwestern. In den Gebeten, die folgen, ist Gott ein strenger Richter. Einer, der jene ins Verderben schickt, die die Erde verderben.

Wichtigster Teil der Andacht sind die Fürbitten. „Schütze alle, die sich für Versöhnung einsetzen“, sagt eine Schwester. „Du König der Herrlichkeit, erhöre uns“, singt die Gemeinde. Es folgen Bitten für Kranke, für Sterbende, für Jugendliche, die keinen Ausweg sehen. Der Gottesdienst ist öffentlich. Eine Besucherin möchte, dass den Politikern Weisheit gegeben sei. „Du König der Herrlichkeit, erhöre uns“ Ein Mann ist in die Bankreihe hinter den Nonnen gerutscht. Er bittet die Karmelitinnen, „alle Männer und Frauen, die allein oder in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft Kinder erziehen“, in ihr Gebet einschließen. Die Nonnen des katholischen Ordens tun es.

An Pfingsten jährt sich die Klostergründung. Seit 25 Jahren leben die Karmelitinnen nun in Nordcharlottenburg, zwischen Hochhäusern, nicht weit vom Flughafen Tegel. Elf sind es zurzeit. Hier beten sie, meditieren, empfangen Gäste, verzieren Kerzen, um damit Geld zu verdienen. Sie sind respektiert in der Nachbarschaft, wo viele muslimischen Glaubens sind. Dunkelhaarige Teenager, die auf dem Klettergerüst des angrenzenden Spielplatzes sitzen, winken den Nonnen hinter den Klosterfenstern zu. Es wirkt, als grüßten sie Fremde in einem vorbeifahrenden Zug. Dem Bild der Muslimin mit Mantel und Kopftuch kommen die Nonnen indes nah. Das macht sie den Kindern vertraut.

Tatsächlich mischen sich in der Tradition der Karmelitinnen christliche Ideen und arabische Kultur. Der Orden geht zurück auf Einsiedler, die im 13. Jahrhundert auf dem Berg Karmel im heutigen Israel lebten. Die bekannteste Karmelitin aber ist Teresa von Ávila. Sie lebte 300 Jahre später in Spanien, als dort der arabische Einfluss sehr stark war. Die Karmelitinnen schotteten sich bewusst von der Welt ab und lebten hinter Gittern in einer Frauengemeinschaft, wie sie sonst im Harem üblich war.

Anders als bei vielen muslimischen Berlinerinnen mit Kopftuch sieht man bei den Karmelitinnen etwas Haar. Das von Schwester Maria-Theresia ist grau. Man habe sich schon vor Jahren für diese lockere Bedeckung entschieden, erzählt sie. Wenn sie in ihrer Erholungszeit in den Bergen wandere, laufe sie ohne Habit und in Hosen herum.

Karmelitinnen in Alltagskleidern, Nonnen, die für gleichgeschlechtliche Paare beten – das irritiert. Karmelitinnen gelten als streng kontemplativer Orden. Beten, meditieren, Zwiesprache halten mit Gott – darauf kommt es an. Es gibt auch in Deutschland noch Karmel, in denen die Schwestern in unbedingter Klausur leben. Zwischen Innen- und Außenwelt wird dort, wie zu Zeiten Teresa von Ávilas, nur durch Gitter kommuniziert.

Ob Gottessuche durch Meditation oder mit Menschen – jeder Karmel, der sich wirtschaftlich selbst tragen muss, entscheide autonom über die Form des Zusammenlebens, sagt Schwester Maria-Theresia. „Uns verbindet gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Spiritualität.“ Die 13.000 Karmelitinnen weltweit, die sich auf Teresa von Ávila berufen, haben keine zentrale Vertretung, keine zentralen Vorgaben. Auch Äbtissinnen auf Lebenszeit gibt es nicht.

Manchmal beeinflussen äußere Bedingungen den Rahmen, in dem ein Kloster wirkt. Wie in Berlin: Hier sollen die Schwestern die Gedenkkirche Plötzensee lebendig erhalten. Gebaut wurde sie in den 60er-Jahren, man wollte dem Schreckensort der Hinrichtungsstätte, wo unter der Nazi-Diktatur 2.891 Menschen geköpft, gehängt, erdrosselt wurden, einen guten Ort entgegensetzen – auf dass das Gute das Schlechte heile. Wie diese spirituelle Kraft entstehen solle, blieb lange unklar. Der Einzug der Karmelitinnen war hilfreich.

Eigentlich kommen sie aus Dachau. Dort hatten Ordensfrauen nach dem Krieg einen Karmel neben dem KZ errichtet, um am Ort des Schreckens Sühne zu leisten. Sie wurden vom Berliner Bischof Alfred Bengsch in den 70er-Jahren gefragt, ob sie das nicht auch in Charlottenburg tun könnten. Nach langer Vorbereitung teilte sich die Gemeinschaft. Schwester Maria Theresia ist eine, die nach Berlin ging.

Der 77-Jährigen gefällt es, dass ihr Auftrag politisch ist. Von englischer Abstammung ist sie, weltläufig erzogen. Sie sucht den Dialog, das Gespräch mit Zweiflern scheut sie nicht. „Wir haben gern Kontakt mit Suchenden. Wir sitzen im gleichen Boot“, erklärt sie im kargen Besucherzimmer. Nur über eine Dachluke fällt Licht ein. An der Wand das Kruzifix.

Von ihr erfährt man, dass sie, kaum in Charlottenburg angekommen, von jungen Ostberlinerinnen kontaktiert wurden, die auch ein Kloster gründen wollten. Jahrelang fuhren Karmelitinnen in geheimer Mission über die Grenze. Die Ostberlinerinnen wollten einen Karmel ohne vorgegebene Strukturen. Das habe am Ende auch ihr eigenes Klostergefüge in Frage gestellt, meint Schwester Maria-Theresia. Den Ostberliner Karmel gibt es nicht. „Es war eine heillose Überforderung für alle.“

Von Schwester Maria-Theresia erfährt man auch, dass die Berliner Karmelitinnen mitunter Gebetstexte modifizieren, wenn sie ihnen zu kriegerisch sind. „Gott wird den Kopf seiner Feinde zerschmettern“ – solche Stellen lasse man gerne weg. „Die Gemeinschaft kann das beschließen.“

Dass die Kirche Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männern gewährt, findet sie auch nicht gut. Und sie kann überzeugend erklären, warum für die Nonnen vom Karmel Regina Martyrum Konfessionen keine Grenzen sein dürfen. „Gedenkstättenarbeit ist per se ökumenisch. In Plötzensee sind nicht nur Katholiken hingerichtet worden.“

In der Gedenkkirche ist Platz für alle: Juden, Christen, Muslime, Buddhisten, Atheisten. Die Schwestern nehmen Rücksicht auf die jeweilige Spiritualität. Zum 60. Jahrestag der Bombe auf Hiroschima baten Japaner, eine Gedenkfeier abhalten zu dürfen. Lange überlegten die Nonnen, wie sie der japanischen Kultur und dem Schrecken, für den Hiroschima steht, gerecht würden. Am Ende machten sie aus der Kirche einen abbildlosen Raum und verhüllten das Altarbild.

Nicht dass die Kirche sonst reich geschmückt wäre. Rohe Mauern überall. Auch das Kloster so kühl. „Wir wollten das“, sagt Schwester Maria Theresia. „Es soll an die Architektur der Lager erinnern.“ Bewusst gestaltete man auch den Kirchhof so, dass er das Trostlose des Gefängnishofs einen Kilometer weiter östlich spiegelt. „Für uns ist der Hof aber nicht bedrückend“, sagt die 77-Jährige, „weil er zur Kirche führt.“ Soll heißen, zum Licht. Aber wie soll man das wissen?

Schwester Maria Theresia musste selbst lange suchen, um ihren Weg dorthin zu finden. Mit ihrem englischen Namen, Smith, lebte sie zur Nazi-Zeit in Frankfurt. Ihre Eltern wollten emigrieren, es gelang nicht. Schon als Kind begriff sie, dass Worte töten können. Sie wollte mit ihnen lieber Türen öffnen und wurde Lehrerin. Mit 22 trat sie dem arbeitenden Orden Sacre Coeur bei und unterrichtete Deutsch, Geschichte und Philosophie.

Als sie 50 war, ging sie in den Karmel. „Ich fragte mich, ob ich den Kern meiner Berufung, die Zwiesprache mit Gott, wirklich lebte.“ Hier ist dafür viel Raum. „Meine Suche nach Gott ist eine Antwort. Ich antworte auf Gott, der mich sucht. Wenn das nicht so wäre, würde das nicht so lange halten“, sagt sie. „Er ist in meiner Ansprache ein Du.“

Schwester Mechthild ist mit 28 Jahren die Jüngste im Kloster. Was sie zum Eintritt in den Karmel bewegt hat? Ihre Sehnsucht nach Gott, sagt sie. Die Hamburgerin studierte evangelische Theologie, war begeisterte Reiterin und Judokämpferin. Bis zum braunen Gurt kam sie, dann wurde die Gottsuche ihr drängendstes Begehren. Mit Gott ist sie symbolisch liiert. Er begegne ihr als Mann, sagt sie. Schwester Maria-Theresia ist nicht so festgelegt. Aber sie warnt: „Die Sprache, mit der wir das zu fassen suchen, ist zerbrechlich.“

Schwester Mechthild führt durchs Kloster. Jenen Ort, der Fremden sonst nicht zugänglich ist. Nur flüstern darf man auf den Fluren. Sie zeigt die innen liegenden Gärten, die Natur in die Abgeschiedenheit bringen. Sie zeigt die Bibliothek, die Kapelle und eine der Zellen. Bett, Tisch, Waschbecken. Nicht einmal ein Schrank. Die Zellen sind einziger Rückzugsort der Nonnen. Sie besuchen sich nicht gegenseitig. Aber vor dem Fenster hat jede ein Blumenbeet. Sie sind durch einen schmalen Weg verbunden. Das erinnert an Kreuzgänge alter Klöster. Sie zeigt auch die Kirche. Dort beten die Schwestern viermal am Tag. Außerdem meditiert jede zwei Stunden für sich. Beim Abendbrot lesen sie sich Zeitungen vor. Die „Tagesschau“ beschließt das Gemeinschaftsleben.

„Das Gebet in der Gemeinschaft trägt mich, und ich trage damit die Gemeinschaft“, sagt Schwester Mechthild. Dabei entstehe eine starke innere Konzentration. Ein Gefühl des Einklangs, des Glücks. Für ihre weltlichen Interessen ist im Kloster kein Platz mehr. Aber – wie wäre es, wenn sie etwa fände, dass sie Gott nur geschminkt begegnen könne? Kajal, Lippenstift, nicht viel. Ginge das? Die Schwester lacht. Die Frage ist jenseits von allem, was ihr wichtig ist. „Ich habe kein Schminkzeug und auch kein Geld dafür“, sagt sie. „Ich habe das Armutsgelübde abgelegt. Ich verzichte auf Besitz.“

Am Sonntag feiert der Karmel sein Jubiläum mit Gottesdiensten und Konzerten. Infos: www.karmel-berlin.de