die taz vor zehn jahren über den vormarsch der taliban in afghanistan
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Der Triumph der Taliban über die Einnahme Masar-e-Scharifs, der letzten großen Stadt Afghanistans außerhalb ihres Einflusses, ist überschwenglich. Die radikal-islamische Bewegung kontrolliert jetzt etwa neun Zehntel des Landes. Daß ihr auch der Rest in die Hände fällt und das Land vollends zu Talibanistan wird, ist nur noch eine Frage der Zeit.

Doch der jüngste Sieg hat für die Taliban einen bitteren Beigeschmack. Immerhin mußten sie den rebellischen Warlord Abdul Malik Pahlawan, der ihnen die Stadttore öffnete, als „Außenminister“ der Nordprovinzen bestätigen. Die Beibehaltung dieses an sich sinnlosen Amtes symbolisiert, daß sie – zumindest vorerst – den Status quo in dem Gebiet respektieren müssen. Pahlawan kann sich einer Quasiautonomie erfreuen, wie sie für Rest-Afghanistan beispiellos ist. Die weitere Entwicklung hängt jetzt entscheidend davon ab, ob er seine Position stabilisieren und damit zu einem neuen Dostum werden kann oder ob die Taliban ihn schrittweise ebenfalls entmachten können. Dabei werden auch Dostums ausländische Verbündete mitreden: Rußland, Usbekistan und Tadschikistan, die einen weiteren Erfolg islamistischer Kräfte an ihrer Südgrenze mit all ihrem moralischen Auftrieb für Gruppen ähnlicher Couleur in ihren Staaten vermeiden wollen, und Iran, der den Einfluß Pakistans und der USA an seiner Ostgrenze fürchtet.

Der Krieg in Afghanistan dreht sich neuerdings auch um eine der Exportrouten für Erdöl und Erdgas aus Mittelasien und um die Ausschaltung des bisherigen Pipeline-Monopolisten Rußland. Taschkent unterzeichnete zu Jahresbeginn bereits ein Abkommen mit dem US-Ölmulti Unocal, der von vielen Beobachtern als eigentlicher Finanzier der Taliban betrachtet wird. Dies aber wird Rußland und Iran eher zusätzlich motivieren, ihren regionalen und globalen Gegenspielern die Transitstrecke Afghanistan nicht kampflos zu überlassen.

Thomas Ruttig in der taz vom 26. 5. 1997