Die Zeit schmilzt dahin

AUS PEKING GEORG BLUME UND
KRISTIN KUPFER

Die Bewohner des Dorfs Zaxizhang in rund 5.600 Meter Höhe am Fuße des Mount Everest machen sich Sorgen. „Ich habe Angst, dass die nächste Generation kein Wasser mehr hat“, seufzt Ziren, Mutter von fünf Kindern. Die 37-jährige Tibeterin, deren oberste Schicht Kleidung von einer breiten Silberschnalle zusammengehalten wird, betreibt das Hotel im Dorf unweit des Gletschers Rongbu. Bestehend aus zwei riesigen Eisflächen erstreckt sich der Gletscher auf einer Gesamtfläche von 85 Quadratkilometern.

Durch die globale Erderwärmung ist der Rongbu in den letzten 30 Jahren um rund 270 Meter zurückgewichen. Auch Binba, ein lokaler Bergsteiger mit sehnigen Armen und knallroter Mütze, beobachtet auf seinen Himalaja-Touren die ungeheuren Veränderungen der Natur. „Die Eispagoden werden immer kleiner, hier unten auf 5.600 Meter gibt es schon gar keine mehr“, schüttelt der 30-jährige Tibeter traurig den Kopf.

Seine Beobachtungen hat er einem achtköpfigen Team des Pekinger Greenpeace-Büros mitgeteilt, das im Mai eine Himalaja-Expedition unternahm. Das Greenpeace-Team wollte einem Foto des Rongbu-Gletschers von 1968 eine aktuelle Aufnahme aus genau der gleichen Perspektive gegenüberstellen. Damit wollte man den Schmelzprozess dokumentieren und ihn auf einen Blick erkennbar machen. „Aber wir konnten gar nicht zu der Stelle laufen, wo der Fotograf vor 39 Jahren gestanden hatte“, gesteht Greenpeace-Campaignerin Zhong Yu nach ihrer Rückkehr nach Peking. Denn wo vor drei Jahrzehnten noch eine dicke Eisschicht war, klafft jetzt eine Schotterwüste. Überrascht hat die Umweltschützerin dagegen das Klimabewusstsein der lokalen Bevölkerung: Das Dorf Zaxizhang sei geradezu ein Vorbild in Sachen Klimaschutz. Seit 2002 werden dort alle Einwohner mit Sonnenenergie versorgt.

Chinas schmelzende Gletscher aber sind schon heute ein Mahnmal für die hereinbrechende Klimakatastrophe. Niemand weiß das genauer als Xu Ying, Klimaforscherin am regierungseigenen Meteorologieamt in Peking. Die neuen Aufnahmen von Greenpeace erstaunen sie nicht. Die engagierte Wissenschaftlerin in luftigem Flatterrock und T-Shirt ist selbst Koautorin des ersten offiziellen Berichts zur Klimalage in China. Der deckt sich mit den Erkenntnissen von Greenpeace.

Bei einem möglichen Temperaturanstieg um 3,3 Grad bis 2050 werden die Eisflächen im Himalaja-Gebirge um rund ein Drittel schrumpfen, erklärt Xu. Kurzfristig bedeute dies eine Überflutung der Gletscherseen und der umliegenden Ackerböden, langfristig aber würden Chinas Binnenflüsse mehr und mehr austrocknen, sagt Xu.

Bereits im letzten Sommer erreichte Chinas längster Fluss, der Yangtse, den niedrigsten Pegelstand seit 140 Jahren. Der Gelbe Fluss, der bislang den Norden der Volksrepublik mit Wasser versorgte, ist an 226 Tagen nahezu ausgetrocknet.

Die Ergebnisse von Xus Klimaforschung schmücken in Form von bunten Kurvendiagrammen die Flure auf der zwölfte Etage des Meteorologieamts. Egal ob Temperatur, Gletscherschmelze, Verwüstung oder Austrocknung der Flüsse, alle Kurven zeigen steil nach oben. Kein Wunder also, dass die KP-Regierung den Klimawandel neuerdings als „nationalen Bedrohung“ bezeichnet.

Klimaschutz als Chefsache

China scheint endlich aus seinem Wachstumswahn aufzuwachen. „Wenn wir unsere Wirtschaft nicht schneller restrukturieren und eine energieeffiziente Methode des Wachstums finden“, wetterte Ministerpräsident Wen Jiabao Mitte April auf einer internen Parteisitzung, „dann werden Chinas natürliche Ressourcen und seine Umwelt die Wirtschaftsentwicklung nicht weiter tragen können.“

Die Volksrepublik, die bis dato Wachstum auf Kosten der Umwelt betrieben hat, will in Kürze sogar einen „Nationalen Aktionsplan für Klimawandel“ veröffentlichen. Um die Inhalte haben die einzelnen Behörden seit drei Jahren hinter verschlossenen Türen gerungen. Erstmals sollen konkrete Ziele und Maßnahmen gegen die Zerstörung der Erdatmosphäre festgeschrieben werden. Dabei spielt die Reduzierung von Treibhausgasemissionen eine Schlüsselrolle.

Der Plan sieht eine Ausweitung des bereits angekündigten Ziels vor, die Kohlendioxidemission pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts bis 2010 um 20 Prozent zu reduzieren. Schon jetzt gelten Pekings Energieeffizienzziele unter Klimaforschern als überaus ehrgeizig. Zudem übernimmt Regierungschef Wen nun persönlich die Leitung einer eigens gegründeten Ad-hoc-Führungsgruppe für Klimapolitik. Klimapolitik ist damit in China ab sofort Chefsache.

Mit der klimapolitischen Kehrtwende versucht China erstmals den gravierenden Folgen des hohen Wachstums Rechnung zu trage. Die Volksrepublik durchlebte zuletzt zwei Jahrhunderte europäische Industrialisierung in nur drei Jahrzehnten. Seit der 1978 initiierten Reform- und Öffnungspolitik wächst die Wirtschaft durchschnittlich um mehr als 9 Prozent. Dass China seine Energie zu über zwei Dritteln aus Kohle gewinnt, nimmt immer klimaschädlichere Ausmaße an. Laut der neusten Prognose der Internationalen Energiebehörde (IEA) wird China die USA noch dieses Jahr als größten Produzent von Kohlendioxid ablösen.

Klimaschutz galt in China bislang als wachstumsfeindlich. Klare Bekenntnisse zur Reduzierung der Emissionen scheute Peking bislang. Für Yang Ailun, die bei Greenpeace in Peking für die Klimakampagne verantwortlich ist, hat das vor allem verhandlungsstrategische Gründe. „China will sich nicht zu früh auf etwas festlegen lassen“, meint die quirlige jungen Frau in brauner Cargohose und blauem T-Shirt, „aber die chinesische Regierung ist auch frustriert über den stockenden Kioto-Prozess.“

Der Physiker Yang Fuqiang kann über den Streit nur milde lächeln. „Ich will die chinesische Position nicht verteidigen“, sagt der Chefrepräsentant der US-initiierten Energy Foundation, „aber um etwas mehr Verständnis werben.“ Dass die Reaktionen auf Chinas Emissionsreduzierungen so negativ sind, findet Yang schade. „Die westliche Welt sollte nicht immer nur danach fragen, ob das ernst gemeint oder möglich ist, sondern einfach mithelfen.“

Yang selbst geht in puncto Klimaschutz mit gutem Beispiel voran. Jeden Tag läuft der agile Mittfünfziger 45 Minuten in sein Büro und versucht Freunde wie Angestellte dazu zu überreden, das Auto stehen zu lassen. „Immerhin haben hier in unserer Stiftung 50 Prozent kein Auto“, sagte Yang. Dafür bekommen die Mitarbeiter, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen, rund 1,50 Euro Fahrkostenzuschuss pro Tag – das reicht dicke für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus oder der U-Bahn.

Preisanreize sind nach Ansicht von Yang eines der wirkungsvollsten Elemente zukünftiger Klimapolitik in China. Seine Stiftung arbeitet an verschiedenen Konzepten zur Besteuerung des Energiesektors: Ihren Vorschlag für eine Benzinsteuer wird die chinesische Führung wohl noch in diesem Jahr umsetzen.

Handlungsbedarf besteht vor allem in Chinas Kohlesektor. Doch gerade dort greifen marktwirtschaftliche Anreize nicht. Obwohl die Zentralregierung die Preisbindung seit Anfang des Jahres größtenteils aufgehoben hat, spiegeln die Preise für Kohlen noch nicht einmal annähernd die Schäden für Klima und Umwelt wider. Denn die Produktion brummt und wird noch zu einem Drittel aus illegalen Minen gespeist, die sich nicht um Umweltschutz kümmern.

„Die Regierung hat den Überblick über den Kohlesektor verloren“, bilanziert Maximilian Mayer, der an der Ruhr-Universität Bochum zu Chinas Energie- und Klimapolitik forscht. Zwar sei Peking nun dabei, die Lizenzen für Kohleabbau neu zu vergeben – geknüpft an Auflagen für die Sicherheit und die Umwelt. Doch dies sei ein sehr langwieriger Prozess.

Der Westen als Vorbild

Die Klimapolitik in China wird voller Widersprüche bleiben. „Die Zentralregierung hat gute Pläne“, sagt Yang Ailun, die aus Leidenschaft bei Greenpeace arbeitet, „aber wenn sie sich in puncto Umweltschutzauflagen wirklich mit den großen Staatsunternehmen im Energiesektor anlegt, wird es knallen.“ In der Kaderhierarchie sind die Direktoren der fünf großen Energiefirmen den Politikern im Energiebüro der Nationalen Kommission für Reform und Öffnung sogar übergeordnet. Die lassen sich nicht so leicht reinreden, fürchtet Yang. Konflikte zwischen einzelnen Institutionen werden zudem nicht offen ausgetragen, sondern durch komplexe Aushandlungsprozesse verschleiert.

Es brauche einen Mentalitätswandel und mehr Raum für öffentliche Beteiligung, sagt Aktivistin Yang. Damit meint sie aber auch die Gesellschaften der westlichen Industriestaaten. Die müssten mit guten Beispiel vorangehen und über ihren Lebensstil nachdenken, statt nur die chinesischen Regierung zu kritisieren, fordert Yang.

Nirgendwo aber scheint derzeit die zerstörerische Wirkung von Menschen auf ihrer Umwelt in China so klar, wie in der unberührten Natur des Himalajas. Der Mönch Awang, 36, lebte hier von klein auf. Jetzt hütet er den Rongbu-Tempel, den höchsten Tempel der Welt in nur 40 Kilometer Entfernung vom Gipfel des Mount Everest. Awang hat seine ganz eigene Theorie vom Klimawandel entwickelt. „Die viele Leute haben durch ihren Lärm und ihre Routen die Seele des Berges verletzt“, meint der Lama in der weinroten Kutte über der rot-grauen Trainingsjacke, „deshalb wird es hier immer heißer.“ Für die Bewohner des Dorfs Zaxizhang schmilzt im Kampf gegen den Klimawandel die Zeit dahin.