Der Fernsehturm als Klangschleuder

Moritz Gagern und das Kammerensemble Neue Musik Berlin bespielen während des MaerzMusik-Festivals fantasievoll ungewöhnliche Räume

Vier Schlagzeuger legen die Himmelsrichtungen fest. Die Klänge, die gen Osten verschwinden, kehren vom Westen her zurück

In der Zentrifuge wirkt bekanntlich die Fliehkraft, um Verschmolzenes in seine Bestandteile zu zerlegen. Der Stoff drängt nach außen, weg vom Zentrum, hinaus ins Freie der Peripherie. Aber gilt das auch für einen rotierenden Klang? Strebt geschleuderte Musik ins Offene?

Am späten Sonntagabend erwartet ein belustigt-neugieriges Publikum die Uraufführung der „Babylonischen Schleife“ von Moritz Gagern im Dreh-Restaurant des Berliner Fernsehturms. Und während die Zuhörer es sich bei einem guten Getränk bequem machen, nimmt das Kammerensemble Neue Musik Berlin auf dem schmalen Streifen, dem starren Innern des Rings, den das Restaurant beschreibt, Platz. Die Musiker verteilen sich wie die Markierungen auf einem Kompass. Vier Schlagzeuger legen die vier Himmelsrichtungen fest, dazwischen je zwei Streicher, ein Holz- und ein Blechbläser.

Das Stück beginnt zaghaft, mit wenigen Tönen und einer übersichtlichen Intervallstruktur – eine kleine Sekunde hier, eine Quarte dort. Die Anordnung des Ensembles vereitelt mögliche akustische Klumpen; das Klangbild wirkt ausgedünnt, heterogen und pointillistisch. Während das Publikum gleichmäßig langsam an den Musikern vorübergleitet, ziehen die Klänge ihrerseits Kreise. Was gen Osten verschwindet, kehrt rücklings vom Westen her zurück. Wenn die Musik Fahrt aufnimmt, geraten die Klänge tatsächlich ins Schleudern. Die Musik drängt dann in den dunklen Himmel über der nächtlich schimmernden Stadt hinaus.

Ohne Dirigent und Sichtkontakt sind die nach außen blickenden Musiker auf akustische Zeichen angewiesen. Die Kon-Zentration der Interpreten gilt mithin ihrer unmittelbaren Umgebung: ein Tremolo der Violine löst den Einsatz der benachbarten Tuba aus, die Tuba gibt den Impuls an das Schlagzeug weiter und so geht es fort.

Moritz Gagern, Jahrgang 1973, ist Komponist, aber auch Jazzmusiker, Dramaturg und studierter Philosoph. Mit seiner „Babylonischen Schleife“ hat er für das Festival MaerzMusik ein originelles Konzept entwickelt, indem er den mit dem Turm verbundenen Assoziationsraum und die Horizontale der kreisenden Plattform in einer wunderbar abwegigen Konzertsituation zusammenführt. Im Verlauf des sechzigminütigen Stücks führt Gagern jede denkbare Form des Kreisens und Stillstands vor. Die räumliche Bewegung dominiert das kompositorische Kalkül, zuungunsten innermusikalischer Erwägungen. Die begrenzten Möglichkeiten des spärlichen Materials hat man schnell durchschaut. Und das führt auch zu einem gewissen Maß an Leerlauf und Langeweile.

Das aber ist nicht unbedingt ein Nachteil. Denn es lässt Platz, um über Metaphern und Chiffren nachzudenken – über die Sehnsucht nach Zentren und Orientierung, die der Turm gewährt, über die Vereinzelung und die Isolation, die der Sprachverlust des babylonischen Turmbaus herbeiführte, und über den enthierarchisierten Raum, den der mittelpunktlose Ring beschreibt und der hier als ein Moment der künstlerischen Freiheit greifbar wird. Ein stärkerer Komponist hätte die räumliche Situation gewiss absorbiert und seinen stilistischen Vorstellungen untergeordnet. Gagern hingegen gewährt dem Raum Platz im Klang.

Wer den Fernsehturm kurz vor Mitternacht verlässt, wird nicht gleich dem Eindruck erliegen, man habe ihn aus einer Zentrifuge geschleudert. Aber ein wenig mulmig ist einem schon zumute, nach all den gegenläufigen Bewegungen, den sich überlagernden Rotationen und Schleifen. Und die Erkenntnis, dass die mechanischen Kräfte der Physik auch im Reich der Töne gelten, lässt hoffen, dass Musik wohl eines Tages auch die Realität vom Gesetz der Schwerkraft befreit. BJÖRN GOTTSTEIN

„Babylonische Schleife“ wieder am 22. 3., 22 Uhr im Fernsehturm am Alex