Schmuggelware

UNGARN Ein Netzwerker avant la lettre: Die Berlinische Galerie und die Moholy-Nagy-Galerie stellen den umtriebigen Lajos Kassák vor

VON MARCUS WOELLER

Würde er heute leben, hätte er die magische Grenze von 5.000 Freunden wohl ausgeschöpft. Lajos Kassák würde vermutlich seine eigene Fanpage verwalten, mehrere Gruppen mit Themen wie „Kunst oder/und Politik“, „Wie lebt man Avantgarde“ oder „Lyrik zwischen Typografie und Expression“ organisieren. Er würde sicher leidenschaftlich twittern und Social Media als Machbarkeitsmedium der Verschränkung von Kunst, Literatur und Leben verstehen. Doch Kassák ist kein Kind unserer Zeit, sondern des frühen 20. Jahrhunderts: geprägt von politischen Umschwüngen in seiner Heimat Ungarn und der Formulierung progressiver Ideen in aus heutiger Sicht sehr langsamen Medien. Trotzdem war Kassák ein Netzwerker par excellence.

Eine kleine Ausstellung in der Berlinischen Galerie präsentiert den Künstler, der 1887 im damalig ungarischen, heute slowakischen Érsekújvár bzw. Nové Zámky geboren wurde und 1967 in Budapest starb, als „Botschafter der Avantgarde“. Die Fähigkeit, zu vermitteln, die kleinen Zellen avantgardistischer Kunst zu organisieren und über Länder- und Sprachgrenzen hinweg zu vernetzen, waren ihm wichtiger, als selbst als Künstler oder Literat wahrgenommen zu werden. János Can Togay vom Collegium Hungaricum in Berlin zitiert ihn mit den Worten: „Die Dichter kennen die Wahrheit, und ich bin ja fast ein Dichter. Aber auch ein Spaten und ein Kran.“

Kassák wollte die Dinge nicht nur von allen Seiten betrachten, er wollte sie angehen und anschieben. Darüber wurde er vom Schlosser zum politischen Aktivisten und selbst zum Zensor für Plakatkunst in der nur ein knappes Jahr bestehenden ungarischen Räterepublik. Schnell geriet er mit den kommunistischen Führern in Konflikt, weil er die Kunst nicht vor den Karren der Parteipolitik spannen wollte. Dafür ging er ein paar Monate ins Gefängnis und emigrierte 1920 nach Wien.

Kassáks Begeisterung für die überall in Europa aufkeimenden Avantgarden, ob sie nun Dada, Futurismus, Expressionismus oder Konstruktivismus hießen, formierte sich schon früh. Nach seiner Lehre war er zu Fuß von Budapest nach Paris gelaufen, wo er unter anderen Guillaume Apollinaire, Sonia und Robert Delaunay kennen lernte. Als Autodidakt mit Working-Class-Hintergrund begann er, mit expressiven Texten die Dichter seiner Generation herauszufordern.

Produktion im Exil

Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte er in seine Heimat zurück und gründete die aktionistische Zeitschrift A Tett (Die Tat). Das Folgeprojekt Ma (Heute) produzierte er ab 1916 und nach kurzer Pause auch aus dem österreichischen Exil bis 1926 weiter, seine Ehefrau musste die Ausgaben nach Ungarn schmuggeln, weil er dort auch nach der Restauration der Monarchie nicht gut gelitten war.

Eine eigenständige Bildsprache fand Kassák mit kleinen typografischen Collagen konkreter Poesie, die man als Bindeglied zwischen Literatur und bildender Kunst verstehen kann. Formal verstand sich Kassák aber auch in der Tradition der Konstruktivisten. Seine „Bildarchitekturen“ vermitteln zwischen plastischer Baukunst und freier Abstraktion und stehen in direkter Verbindung zur Malerei des Bauhaus-Schülers Sándor Bortnyiks. Die Kuratorinnen Edit Sasvári vom Budapester Kassák-Museum und Veronika Baksa-Soós von der Moholy-Nagy-Galerie des Collegium Hungaricum recherchierten für die Ausstellung in vielen Privatsammlungen, doch vom schmalen Ouevre Kassáks bleiben viele Arbeiten verschollen.

Medienwissenschaftliche Leistung

In ihrer Konzentration macht die Ausstellung deutlich, dass es Kassák einerseits um die Verlegertätigkeit in Augenhöhe mit seinen Kollegen ging, andererseits aber besonders darum, die verschiedenen Avantgarde-Magazine miteinander zu vernetzen. Dazu gehörten De Stijl aus Leiden, Zenit aus Zagreb, Broom mit wechselnden Standorten und Der Gegner aus Berlin, 2 x 2 aus Wien, Contimporanul“ aus Bukarest oder L’esprit nouveau aus Paris. Mit den jeweiligen Herausgebern und Künstlern wie László Moholy-Nagy, El Lissitzky, Tristan Tzara, Viking Eggeling oder Hans Richter tauschte er Manuskripte, Artikel und Bildklischees aus und wurde so nicht nur zum Vater der ungarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, sondern forcierte die Kopräsenz dieser Künstler europaweit in den Kunstzeitschriften. Insofern ist „Lajos Kassák. Botschafter der Avantgarde 1915–1927“ nicht nur als kunsthistorische, sondern vor allem als medienwissenschaftliche Forschungsleistung zu sehen.

■  „Lajos Kassák. Botschafter der ungarischen Avantgarde. 1915–1927“, Berlinische Galerie, bis zum 17. November

■  Moholy-Nagy-Galerie des CHB: „Manifest: KassÁk! Eine intermediale Annäherung“ bis zum 25. September