Der tolerierte Tod in Russland

Bei einem Brand in einem russischen Seniorenheim sterben 62 Menschen, ein Grubenunglück in Sibirien fordert mindestens 104 Opfer. Wieder einmal liegen gravierende Sicherheitsmängel vor. Feuerwehr und Rettungspersonal reagieren mit Verspätung

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Mehrere Katastrophen haben Russland seit dem Wochenende heimgesucht. In der Nacht zu Dienstag kamen bei einem Brand in einem Altenheim in Südrussland mindestens 62 Menschen ums Leben. Ein Grubenunglück forderte am Montag in der sibirischen Kohleregion Kusbass bislang 104 Opfer. Bei einem missglückten Landeversuch einer TU-134 im zentralrussischen Samara waren am Sonntag sieben Passagiere gestorben. Präsident Wladimir Putin beauftragte gestern Regierungschef Michail Fradkow, die Unglücksursachen genau zu untersuchen.

Worauf der Brand im Altenheim von Kamyschewatskaja zurückzuführen ist, konnte noch nicht geklärt werden. Nach ersten Ermittlungen steht jedoch fest, dass die meisten Opfer einer Rauchvergiftung erlagen. 37 Insassen wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Unter den Opfern sind auch drei Mitarbeiter des Heimes.

Fast eine Stunde brauchte die Feuerwehr in der Nacht bis zum Brandort. Die nächste große Feuerwehrwache befindet sich in der 50 Kilometer entfernten Stadt Jejsk. Auch die freiwillige Feuerwehr aus einem Nachbarort traf erst eine Stunde nach dem Alarm ein. Die Berufsfeuerwehr brauchte die ganze Nacht, um den Brand zu löschen, teilte der Katastrophenschutz des Kreises Krasnodar mit.

Nach Angaben des Katastrophenschutzes reagierte die Nachtwache der Seniorenstätte mit erheblicher Verzögerung. Erst beim dritten Alarm verständigte der Wächter telefonisch die Feuerwehr. Offensichtlich habe dieser den Brand erst bemerkt, als Rauch und Brandschwaden durch das zweigeschossige Gebäude zogen. Die vier Mitarbeiter des Nachtdienstes seien zudem überfordert gewesen, die mehr als 30 gehbehinderten Insassen zu evakuieren, meint der Katastrophenschutz . Bei Ausbruch des Feuers hätte sich das Personal überdies nicht am Arbeitsplatz aufgehalten und in der Eile den Schlüssel des Notausgangs nicht finden können.

Erst im vergangenen Jahr war das Heim zweimal inspiziert worden. Von 30 Beanstandungen waren beim zweiten Rundgang sechs gravierende Mängel immer noch nicht behoben – darunter Unzulänglichkeiten bei der Brandverhütung und Evakuierung. So fehlten Brandmasken für die Mitarbeiter, auch genügend Feuerlöscher waren nicht vorhanden. Ebenso soll das Signalsystem mangelhaft gewesen sein. Zum Zeitpunkt des Brandes wurde das Heim renoviert, ohne die Rentner zu verlegen. Auch dies ist ein Gesetzesverstoß. Nach den Inspektionen waren Konventionalstrafen gegen das Heim verhängt worden.

Brände in Wohnheimen, Kliniken und öffentlichen Einrichtungen sind in Russland keine Seltenheit. Brandschutz und Sicherheitsregeln werden meist missachtet, was wegen der maroden Infrastruktur besonders verheerende Folgen hat. Dies ist nicht allein die Schuld des Staates, sondern auch das Versäumnis des Bürgers. Solange er nicht leidgeprüft ist, schmunzelt er über bürokratische Anordnungen. Lieber zahlt er Bakschisch, als Mängel zu beheben. Eine Haltung, die die Russen „awos“ nennen, was so viel bedeutet wie „ein Leben aufs Geratewohl“.

Auch Grubenunglücke sind an der Tagesordnung, da die Zechen überaltert und unzureichend gesichert sind. Die Kohlegrube von Nowkusnetzk, in der 104 Kumpel starben, ist jedoch eine der modernsten Förderanlagen. Die Staatsanwaltschaft geht inzwischen davon aus, dass die Methanexplosion bei der Überprüfung der Anlagen unter Tage ausgelöst wurde. Kohlenstaub oder Methan sei explodiert, was die Stollendecken zum Einsturz gebracht hätte. Die letzte Inspektion der Überwachungsbehörde „Rostechnadsor“ fand Anfang März statt. Der Gouverneur des Gebietes Kemerowo schließt menschliches Versagen als Unglücksursache aus. Neben den 104 Opfern werden noch sechs Bergleute vermisst.

Die Zeche fördert im Jahr drei Millionen Tonnen Kohle. Sie war im Oktober 2002 in Betrieb gegangen und gehört zum Imperium des Oligarchen und Putin-Intimus Roman Abramowitsch. Die Betreiberfirma Juschkusbassugol ist Teil des Stahlgiganten Evraz Group. Abramowitsch galt bis zur Scheidung von seiner Frau letzte Woche als reichster Mann Russlands.