Die Angst vor dem finalen Verdacht

Seit sechs Wochen steht eine Charité-Schwester wegen Mordes vor Gericht. Im Prozess wird deutlich, dass die Klinikmitarbeiter zu spät reagiert haben

Eigentlich waren für den Mordprozess gegen die einstige Charité-Krankenschwester Irene B. lediglich vier Termine angesetzt – jetzt wird die Anhörung von Zeugen ausgeweitet. B. wird vorgeworfen, bis zu ihrer Verhaftung Anfang Oktober 2006 sechs schwerkranken Patienten ohne deren Wissen eine tödliche Medikamenten-Überdosis gespritzt zu haben. Heute geht die Verhandlung in Saal 700 des Landgerichts in Moabit nach einer Pause weiter.

VON UTA FALCK

Eine Ampulle fällt in einen Abfalleimer – ein Geräusch, das jede Pflegekraft kennt. Nur passt es an diesem 16. August 2006 nicht zur Diagnose des Patienten, der hinter dem Vorhang von Schwester Irene B. betreut wird. Der 77-jährige Mann war an diesem Tag von zwei Ärzten der Charité als „präfinal“ eingestuft worden, erinnert sich Pfleger André S., der dieses Gespräch mitbekommen hatte. „Präfinal“, so bezeichnen Mediziner Menschen, die im Sterben liegen. Der Patient soll keine Medikamente mehr erhalten.

Aber da sind diese Geräusche, die der Pfleger hört. „Was spritzt sie da?“, fragt er sich. Kurz danach registriert er auf dem zentralen Monitor den extrem fallenden Blutdruck des Patienten. S. fragt seine Kollegin: „Brauchst du Hilfe?“ Doch sie verneint – der Patient dürfe ja sterben.

Zehn Minuten später ist der Mann tot – er ist einer von sechs Patienten der kardiologischen Intensivstation der Charité, die die Krankenschwester Irene B. zwischen Juni 2005 und Oktober 2006 mit Medikamenten umgebracht haben soll. Zudem wirft die Staatsanwaltschaft der 54-Jährigen zwei Mordversuche vor. Seit Mitte April steht Irene B. vor dem Landgericht.

Der Prozess ist schnell zum Stadtgespräch geworden, denn es geht dabei nicht nur um mutmaßliche Morde an Todkranken. Es geht auch um den Ruf der Charité, um die seelisch stark belastende Arbeit im Pflegebereich und darum, dass eine Klinik sich für die Gefühle ihrer Angestellten interessieren muss.

Bislang gab es für die Mitarbeiter der kardiologischen Intensivstation, die täglich mit schwerstkranken und sterbenden Menschen konfrontiert sind, keine Supervision. Dies wäre ein Ort gewesen, an dem die Betroffenen eine Diskussion über die vielen Merkwürdigkeiten im Verhalten von Schwester B. hätten führen können. So jedoch konnten Pfleger und Ärzte nur hierarchische Dienstwege beschreiten, die sich als ziemlich verstopft erwiesen.

André S., der 42-jährige Pfleger, ist der erste Zeuge im Prozess. Ob er wisse, dass er sich mit seiner Aussage selbst belasten könne, will der Vorsitzende Richter Peter Faust von dem Mann mit dem kinnlangen, strähnigen Haar wissen. André S. nickt. Noch ahnt er nicht die Folgen, die seine Aussage nach sich ziehen wird.

André S. erzählt dem Gericht, wie er Ohrenzeuge des mörderischen Tuns seiner Kollegin wurde. Wie ihn ein mulmiges Gefühl beschlich, obwohl er nichts gesehen hatte. „70 Prozent meiner Wahrnehmungen waren akustisch“, erklärt er dem Gericht. Bei einem Verkehrsunfall wäre André S. als so genannter „Knallzeuge“ eingestuft worden – ein Zeuge minderer Qualität. Nur die Ampulle, die er an jenem Abend aus dem Papierkorb angelte, konnte man anfassen. Es war eine leere Ampulle Nitroprussidnatrium, ein stark blutdrucksenkendes Medikament, das für den Notfall und jedem zugänglich an verschiedenen Orten auf der Station 104i aufbewahrt wird. Die Ampulle hätte somit auch von der Behandlung eines anderen Patienten stammen können. Den Gedanken an einen Mord konnte André S. kaum zulassen. „Das ist absolut absurd. Ich arbeite mit ihr zehn Jahre lang zusammen. Wir sind dazu da, Leben zu retten, und nicht, um dagegenzusteuern.“ Er wollte sich selbst beruhigen: Vielleicht habe ich mir das Ganze auch nur eingebildet?

Der Pfleger – einer der wenigen Kollegen, der gut mit Schwester Irene ausgekommen ist – wollte keinen Verdacht haben. Doch die Blässe in seinem Gesicht konnte er damit nicht vertreiben. Bei der Schichtübergabe fragten ihn zwei Pfleger, was los sei. André S. wollte zunächst nichts sagen. Doch dann machte er seinem Herzen Luft. Er bat die beiden um Verschwiegenheit und darum, während seines mehrwöchigen Urlaubs ein Auge auf Schwester Irene zu werfen.

Erst am 26. September 2006 brach einer der Pfleger das Schweigen, als ihm ein Oberarzt berichtete, es sei in dieser Nacht schon wieder jemand bei Schwester Irene gestorben. Diesmal spritzte sie den Blutdrucksenker während einer Reanimation – eine perfide Handlung angesichts der um das Leben des Patienten ringenden Kollegen.

Der Vorsitzende Richter hat wenig Verständnis für das kollektive Schweigen auf der Station. Immer wieder will er wissen, warum André S. seine Beobachtung nicht an größere Glocken gehängt hat. „Weil es das Letzte ist, jemanden des Mordes zu verdächtigen“, antwortet der Zeuge. „Wo täglich Leben gerettet wird, schwimmt doch keiner gegen den Strom.“ Warum schwiegen die Pfleger, die André S. ins Vertrauen zog? „Ich konnte diese ganze Geschichte nicht glauben“, sagt Gunnar F. „Ich hatte auch andere Sachen zu tun, als andere Kollegen auszuspionieren.“

Warum hat der Stationsarzt Christoph R., der am 26. September 2006 von dem Verdacht erfuhr, nicht gleich die Polizei verständigt, sondern sich lediglich mit der Stationsleitung beraten und vergeblich versucht, den Klinikdirektor zu erreichen? „Das ist der schwerste Vorwurf, den man jemandem machen kann“, sagt R. „Bei einem falschen Verdacht hätte es schwerste arbeitsrechtliche Konsequenzen gegeben.“ In einer Intensivstation, wo die Kollegen täglich im Team reanimieren, müssen sie sich blind vertrauen können. „Sonst stirbt der Patient“, so der Arzt.

Warum hat Cordula S. nicht eher auf die sich häufenden Beschwerden über Irene B. reagiert? Die schmale, blasse Stationsleiterin ist Vorgesetzte von etwa 30 PflegerInnen. Drei Jahre lang qualifizierte sich die heute 36-Jährige für diese Position. Doch ihr fehlt das Charisma, um sich Respekt gegenüber eigensinnigen Mitarbeitern wie Irene B. zu verschaffen. Im März 2006 erfuhr S., Schwester Irene habe einer verwirrten Frau auf die Hand geschlagen. Die Stationsleiterin wollte sich darum kümmern, beschloss dann jedoch, eine Wiederholung abzuwarten.

Vier Monate später zeigte ein Patient an, er sei von B. geschlagen worden. Statt sich direkt mit ihrer Mitarbeiterin auseinanderzusetzen, informierte Cordula S. ihre Vorgesetzte. Die regte ein Gespräch zu dritt an. Dazu kam es nicht mehr. Eine Woche vor B.s Verhaftung unterrichtet der Stationsarzt die Stationsleiterin vom Mordverdacht gegen Irene B. Was tut die überforderte Frau? Sie informiert tags darauf die Pflegedienstleiterin – das ist alles. „Für mich war selbstverständlich, dass ich das meinen Vorgesetzten melde. Das habe ich getan“, sagt Cordula S. Es klingt wie die Antwort einer fleißigen, aber talentlosen Musterschülerin. „Mit Verlaub, das ist ungeheuerlich“, empört sich der Vorsitzende Richter.

Es ist nicht das erste Mal in diesem Prozess, dass Peter Faust deutliche Worte anschlägt. Mancher mag des Richters polternde Art kritisieren, etwa wenn er sich von den Pflegern das Benutzen des „griechisch-lateinischen Vokabulars der Erstsemester“ verbittet. Doch zum Aufrütteln der hierarchiegeprägten Charité ist er der Richtige. Bislang ergriff die Klinik vier Maßnahmen als Folge der Todesserie: Sie richtete eine Hotline zu einer Anwaltskanzlei ein. Dort sollen Mitarbeiter anrufen und ihre Sorgen anonym äußern. Ob sie dort offen sprechen, ist unklar.

Auch die Wirksamkeit des anonymen Fehlermeldesystems, das von einer „Qualitätsstelle“ ausgewertet wird, ist fraglich. Das „Ohr am Herz des Mitarbeiters“ lässt sich nicht mit einem Computerprogramm ersetzen. Drittens trommelte die Charité Ende April eine Expertenkommission zusammen, die Empfehlungen zur Aufarbeitung dieser Katastrophe geben soll.

Die vierte Maßnahme der Charité ist die Suspendierung und Versetzung von fünf in den Skandal verwickelten Mitarbeitern. Als Erste traf es die Stationsleiterin Cordula S. Tage später versetzte man den Stationsarzt Christoph R. auf eine andere Station. Die drei Pfleger, die seit Mitte August 2006 vom Verdacht wussten, wurden vorübergehend vom Dienst suspendiert – angeblich auf ihren eigenen Wunsch. Zur Begründung sagt Charité-Sprecherin Kerstin Endele, man wolle mit dieser Maßnahme „die Arbeitsfähigkeit der Station und die professionelle Betreuung der Patienten sichern“. Sie klingt genervt.

André S. fühlt sich inzwischen „wie das Schwein, das durchs Dorf getrieben wird“, wie er vorsichtig am Rande des Prozesses erzählt. Ist es wirklich so verwerflich, Vorsicht walten zu lassen, bevor man Kollegen denunziert? Ist es den Mitarbeitern anzulasten, dass es in dem riesigen Unternehmen keinen Ort gibt, wo vage Verdachtsmomente gut aufgehoben sind? Auch im Fall einer Krankenschwester, die in Wuppertal Mitte der 80er-Jahre von einem Kollegen bei der Tötung eines Patienten beobachtet wurde, zweifelte der Pfleger an seiner Wahrnehmung. Als er sich schließlich an die Chefärztin wandte, wurde er verspottet.

André S. bleibt im Moment nur die Rolle eines Zuschauers im Prozess. Dort sitzt er stundenlang gemeinsam mit zahlreichen Kollegen. Sie kommen nicht nach Moabit, weil sie Mitleid mit Irene B. spüren, sondern weil sie nach Antworten suchen, die ihnen ihr Arbeitgeber bislang offensichtlich nicht geben konnte.