Knuddeln für ’nen Fuffi

Das Berliner Eisbärenbaby Knut: die ganze Geschichte – und die traurige Wahrheit

„Der soll mal glücklich gucken, ist ja für einen Tierschutzkalender“

Rüdiger Wenz* hat die Schnauze voll. „Seit Wochen schwitze ich mir einen Wolf in diesem Bärenkostüm, während der kleine Scheißer die ganzen Weiber kirre macht. Dabei stinkt er wie ein Puma aus dem Arsch.“ Wenz’ Stimme klingt dumpf und müde. Das ändert sich auch nicht, als er den plüschigen Kopf seines Eisbärenkostüms abnimmt. Stechender Schweißgeruch erfüllt auf einmal den Raubtierkäfig. „Ich darf mich nicht waschen, Befehl von ganz oben“, erklärt Wenz, „sonst erkennt der kleine Blödmann mich nicht mehr, ich bin ja seine Mami.“

Der gelernte Metzgerssohn Wenz arbeitet als Tierpfleger im Berliner Zoo – als 1-Euro-Jobber, wie alle Angestellten des Landes Berlin (mit Ausnahme des Regierenden Bürgermeisters). Seit dreieinhalb Monaten ist er nun zur persönlichen Pflege und Unterhaltung des Eisbärbabys Knut abgestellt, vorher hat Wenz unter anderem als Betreuer der Band Tokio Hotel gearbeitet.

„Und jetzt geht die ganze Scheiße schon wieder los“, jammert er, „Windeln wechseln, Schlaflieder singen und erklären, wo die kleinen Babys herkommen.“ Wenz nimmt einen tiefen Schluck aus der Wodkapulle, die er unter dem Stroh seines Lagers versteckt hält – auf der Flasche ist ein Eisbär abgebildet. „Na, wenigstens singt das Vieh nicht“, brummt er ein wenig resigniert.

Eisbärbaby Knut sitzt derweil vor dem Fernseher und versucht vier Automarken zu erraten, die mit einem T beginnen. Mit tollpatschigen Bewegungen richtet sich der possierliche Geselle auf, nimmt einen Wachsmalstift in seine Pfoten und malt vier große T auf den Betonboden. Grübelnd schaut er sie an und klimpert dabei mit den langen, seidigen Wimpern seiner blitzeblanken Knopfäuglein.

„Toyota, Tata, Talbot und Triumph, wie doof kann man sein?“, zischt Wenz ihm übellaunig zu, dann wendet er sich wieder seinem menschlichen Gesprächspartner zu: „Wussten Sie, dass Eisbären die blödesten Tiere sind, wo gibt?“ Knut seufzt und beginnt, in einem Buch zu lesen.

An der Glasscheibe formiert sich eine Besuchergruppe. Zahlreiche Damen drücken sich die Näschen an der Scheibe platt und stoßen spitze Schreie des Entzückens aus. Der Pfleger wirft dem Eisbärchen einen strafenden Blick sowie eine Bürste an den Kopf. Seufzend legt Knut sein Buch zur Seite und beginnt mit der Bürste zu spielen. Die Damen quieken vor Vergnügen.

„Jetzt ist Streichelzoo angesagt“, befiehlt Wenz und wuchtet sich das niedliche Fellbündel vor den Wanst. Knut wimmert, aber Wenz liefert ihn schutzlos den gierigen Frauenhänden aus und kassiert 50 Euro für einmal Kuscheln. Während Knut nach Strich und Faden durchgestreichelt wird, baut sich der Pfleger neben den Damen in voller Größe auf und entblößt seine beträchtliche, aber ebenfalls zartbeflaumte Plautze. „Manchmal fällt auch was für mich ab“, erklärt er, und tatsächlich schmiegt bald eine rosige Mittfünfzigerin ihre Wange an den käsig riechenden Mann und flüstert mit entrücktem Blick Koseworte in den verschorften Bauchnabel. „Das kostet nur die Hälfte“, sagt der Tierpfleger generös.

Anschließend verteilt Wenz Autogrammkarten, die Knut mit Pfotenabdruck signieren soll. Als der Pfleger sich abwendet und zu seiner Wodkapulle wankt, schreibt Knut mit zittriger Schrift „Hilfe!“ darauf. Die Damen sind entrüstet und melden den Vorfall umgehend der Zooleitung.

„Und ich muss es wieder ausbaden“, seufzt Wenz und verstaut sein Handy wieder im Kostüm, denn gerade hat er ein Telefongespräch mit dem Satz: „Wird nicht wieder vorkommen, Frau Bundeskanzler“, beendet. Knut kauert zitternd in der Ecke.

„Kein Wunder, dass deine Mutter dich nicht wollte, undankbares Kroppzeug“, schilt Wenz den unbotmäßigen Bären und erteilt ihm einen Monat Fernsehverbot.

Dann müssen die beiden zum Fotoshooting. Während Knuts Fell noch einmal mit Domestos aufgebleicht wird, lässt sich Wenz von der Visagistin die Nasenhaare zupfen. Knut wird in zahlreiche niedliche Verkleidungen gezwängt und muss schließlich nackt auf einem Eisbärfell posieren.

„Na, Knut. Ist doch immer schön, Verwandte zu treffen“, meckert Wenz gehässig. „Der Bär soll mal glücklich gucken, ist ja für einen Tierschutzkalender“, fordert der Fotograf und wendet sich an Wenz, doch die massige Gestalt im Eisbärkostüm liegt zusammengerollt in der Ecke und schnarcht überzeugend artgemäß. Brummelnd legt der Fotograf einen neuen Film in seine Kamera. Als das Gerät wieder einsatzbereit ist, hält Knut ein Schild vor dem Bauch. „Seit 112 Tagen Gefangener des Berliner Zoos“ ist in krakeliger Kinderschrift darauf zu lesen.

CHRISTIAN BARTEL

* Name von der Redaktion geändert