Es waren Täter, nicht Gehilfen

Die Juristen, die NS-Verbrechen in den 60er-Jahren verfolgten, waren noch viel zu sehr von Krieg und Nachkriegszeit geprägt

„Es empfiehlt sich“, schreibt Micha Brumlik im Vorwort des Buches, „die folgenden Gespräche zweimal zu lesen.“ Diese Mahnung ist angebracht. Tatsächlich erkennt man erst so die Bedeutung der sieben Interviews, die Thomas Horstmann und Heike Litzinger mit Juristen geführt haben, die an der Verfolgung von NS-Verbrechen beteiligt waren.

Gegenstand der Interviews ist eine wichtige Kontroverse in der Rechtsprechung über die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen. 17 Juristen trafen sich 1966 in Königstein, um eine Sonderveranstaltung des Juristentages dieses Jahr vorzubereiten. Thema des Treffens war, warum in Strafverfahren zu NS-Mordtaten die Angeklagten häufig nur wegen „Beihilfe“ zum Mord als „Gehilfen“ verurteilt wurden.

Der Präsident des Juristentages hatte die Tagungsteilnehmer bewusst „ausgewogen“ zusammengestellt. Deshalb saßen neben Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen und Initiator des Auschwitz-Prozesses, auch Anwälte, die als Verteidiger in NS-Prozessen fungierten. Verfasser eines Alternativentwurfs für das Strafgesetzbuch trafen auf ihren konservativen Gegenspieler aus dem Justizministerium. So bunt auch der Teilnehmerkreis war, es handelte sich um die „Crème de la Crème“ der deutschen Strafrechtslehre und -praxis.

Die Lektüre der sieben publizierten Interviews lohnt nicht nur deshalb, weil hier auch der rechtsunkundige Leser eine Vorstellung davon bekommt, wie mühselig das Geschäft der NS-Prozesse in den 60er-Jahren war. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus entstand erst mit den juristischen Verfahren. Die Lektüre zeigt auf besonders eindrückliche Weise, wie sehr die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen die Haltungen der Juristen bei der Beurteilung von NS-Tätern bestimmten.

Micha Brumlik schreibt im Vorwort: „Das Leben eines schon in der Weimarer Republik bereits aktiven Juristen und Rechtspolitikers, der Erfahrungen von KZ, Vertreibung und Emigration hinter sich hatte [gemeint ist Fritz Bauer; die Red.], musste zu anderen Prägungen führen als das Leben zweier Generationen bildungsbürgerlich geprägter, religiös oder moralisch zwar antinationalsozialistisch eingestellter, aber aufgrund ihres Lebensalters in aller Regel nicht politisch aktiver jüngerer Männer, die durch Bombenkrieg oder Kriegsgefangenschaft ganz anderen Erfahrungen ausgesetzt waren.“

Viele der Interviewten gehören der „Flakhelfergeneration“ an, wurden zwischen 1922 und 1929 geboren. Sie erzählen aus ihrer Zeit als Jugendliche, von der Reaktion ihrer Eltern auf den Nationalsozialismus, ihrem eigenen Dienst bei der Wehrmacht, der Kriegsgefangenschaft und ihren Laufbahnen danach.

Ergebnis der „Königsteiner Tagung“ war dennoch eine gemeinsam verfasste Erklärung, die aber leider in dem Band nicht dokumentiert ist. In ihr wurde festgestellt, so resümieren die Herausgeber, „dass bislang in NS-Prozessen oft zu Unrecht die Beschuldigten als Gehilfen statt als Täter verurteilt worden waren und die Strafen oftmals nahe den gesetzlichen Mindeststrafen lagen. Sie benannten eindeutig, wann ein Beschuldigter als Täter gelten müsse. Sie kritisierten, dass zu oft Entschuldigungsgründe herangezogen und Mordkriterien nicht hinreichend berücksichtigt würden.“ Eine ausführliche Debatte auf dem Juristentag 1966 war nach der Berichterstattung einiger Tagungsteilnehmer nicht vorgesehen und fand auch nicht statt.

Der sehr empfehlenswerte Band schließt leider keine kritische Rekapitulation der justiziellen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik insgesamt mit ein. Bekanntlich hat die bundesdeutsche Justiz die von den Alliierten gesetzten Maßstäbe bei der Aburteilung von NS-Tätern nicht übernommen. Sie hat stattdessen mit dem auf Straftaten in einer demokratischen Gesellschaft ausgerichteten Strafgesetzbuch die NS-Massenverbrechen bearbeitet. MARTIN JANDER

Beiträge zur Kontroverse über die NS-Prozesse bietet die Debattenseite des Fritz-Bauer-Instituts: www.fritz-bauer-institut.de/texte.htm #Debatte Thomas Horstmann, Heike Litzinger: „An den Grenzen des Rechts“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006, 233 Seiten, 19,90 Euro