Frankenstein vor Mitternacht

Wenn Sie sich mal wieder als Girlie fühlen wollen – besuchen Sie einfach ein Johnny-Winter-Konzert

Schon als Kind wollte ich Entdeckerin sein. Ich stellte mir vor, wie ich durch die Welt reiste, als Einheimische verkleidet, und dann die Leute in ihrer Vielfalt beobachten und mir über sie Gedanken machen könnte. Wie vielfältig doch die Welten sind, die sich die Menschen so bauen! Das ist auch heute noch spannend.

„Also ganz nach vorne ist zu dicht“, sagt Freundin Britt, „in diese Männermasse kann ich nicht eintauchen.“ Wir stehen in der ausverkauften Columbiahalle. Britts Mann Thomas hat uns eingeladen, in seinen 50. Geburtstag hineinzufeiern. Johnny und Edgar Winter treten heute Abend nacheinander hier auf, gut über 60 sind sie, und sollte irgendeine Frau in späteren mittleren Jahren mal dringend gleichaltrige Männer kennenlernen wollen, kann ich nur sagen: Geht zu Konzerten von über 60-jährigen legendären Blues- und Rockgitarristen. Das Verhältnis von Männern zu Frauen im Publikum beträgt fünf zu eins. Lederjacken, karierte Flanellhemden, zum Glück nur ein paar ausgedünnte Pferdeschwanzfrisuren. Die Stimmung ist gut. Einige Männer mustern mich. Sowas fällt mir inzwischen auf.

„Sieht hier aus wie auf der Spinnerbrücke“, sage ich zu Britt. Nur für Außerirdische, die sich nicht auskennen: Die „Spinnerbrücke“ in Wannsee ist der Biker-Treff in Berlin. Als Christoph und ich neulich auf unserer Suzuki dort vorbeiknatterten, trauten wir uns nicht, unsere lächerliche 125er neben den elefantengewichtigen BMWs und Harleys abzustellen. Ich erinnere mich an einen Artikel aus dem Magazin Brigitte Woman, in dem eine 50erin beschrieb, wie sich ihr Leben veränderte, als sie den Motorradführerschein gemacht und eine Harley Sportster gekauft hatte: „Von Männermangel keine Spur mehr. Plötzlich gehörst du einfach dazu.“

Auf der Bühne tröten die Helfer in die Mikrofone: „One two, one two“. Soundcheck. Es zieht sich. Das war anders bei dem Bob-Dylan-Konzert, von dem mir Britt erzählte. Um 19.30 Uhr sollte das Konzert beginnen, Britt und Thomas waren erst gegen 20 Uhr eingetroffen, weil sie sich eine herumlärmende Vorgruppe ersparen wollten. Doch der in Würde gealterte Dylan himself war schon längst am Singen. Er schloss pünktlich um halb zehn. Das ist gut, wenn man am Morgen früh raus muss.

Der Soundcheck dauert. „Bin ich nicht eigentlich zu jung für dieses Konzert?“, frage ich mich. Die größten Hits hatten die Winter-Brüder in den frühen 70er-Jahren. Ich erinnere mich vor allem daran, dass die beiden Albinos sind.

Ein schwergewichtiger Mann mit langer weißer Matte und Ponyfrisur betritt die Bühne, den massigen Körper in ein zeltartiges Hemd gehüllt. Die Rhythmusgruppe fängt an zu arbeiten, präzise wie ein Rasiermesser. Edgar Winter hämmert ins Keyboard, schluchzt ins Saxofon, verfällt in Scat-Gesang und bewegt sich im Schreittanz über die Bühne. Aus jeder Pore dringt Musik. Als er mit dem Synthesizer den Hit „Frankenstein“ in die Halle röhrt, rast das Publikum. Ein Typ mit strahlend türkisblauen Augen gibt mir Feuer. Schon ein interessantes Milieu hier.

Umbaupause. „And now the legendary Mister Johnny Winter“, dröhnt es aus den Lautsprechern. Legendary! Ich starre über die Menschenmauer vor mir auf die Bühne, dort steht aber nur eine Band ohne Sänger. „Wo ist er denn?“ brülle ich. „Na da!“, schreit Thomas. Es bluest, lange Gitarrenläufe, dieses Gefiesele habe ich ja nie gemocht. Christoph kommt durch die Menge wieder nach hinten. Er hebt mich hoch. So kann ich wenigstens einen Blick auf Johnny erhaschen. Ein alter, bleicher Mann mit breitkrempigem schwarzem Hut spielt zusammengesunken vor sich hin – im Sitzen auf einem Stuhl. Eine fast schon karitative Atmosphäre macht sich breit.

Wir gehen vorzeitig. Man will diesen Mann schonen. „Es gibt verschiedene Varianten zu altern“, sagt Thomas draußen, „heute haben wir zwei davon gesehen.“ „Ja“, meine ich und schaue verstohlen auf die Uhr. Ich bin etwas müde. Dabei ist es erst elf. Noch eine Stunde muss ich durchhalten. Dann können wir anstoßen, auf Thomas 50.

BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE

Fragen zum 50.? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried hat wieder ÖKOSEX