: Mit Railtour Suisse zur Revolution
Vor dem G-8-Gipfel erinnert der eidgenössische Bahnreiseveranstalter Railtour an revolutionäre Zusammenhänge von Gleisen, Geschichte und Gegenwart. Der Veranstalter will dieses Jahr mindestens 30.000 Schweizer nach Deutschland bringen
VON HENDRIK DE BOER
Erinnern wir uns: Im April vor 90 Jahren reiste ein gewisser Wladimir I. Uljanow aus dem Schweizer Exil via Germanien heim nach Russland. Der Mann – Spross eines russischen Oberlehrers und einer deutschstämmigen Mutter – spielte Revolutionär und trat mit Künstlernamen Lenin auf. Die Zarenherrschaft war schon beendet, nicht jedoch der Krieg. Der deutschen Heeresleitung gefiel der angehende Hauptdarsteller, dessen Stück „Aprilthesen“ („Abschaffung der Polizei, der Armee, des Beamtentums“) wollte sie jedoch nicht auf deutscher Bühne sehen. Also genehmigten die wilhelminischen Truppen die Passage nur in einem plombierten Eisenbahnwaggon und erhofften sich Kriegsvorteile von Lenins russischer Bühnenpremiere in der damaligen Hauptstadt Petrograd.
In seiner Heimat jedoch bekam Künstler Lenin zunächst nur mäßig Beifall, musste gar vor allzu lauten Missfallensbekundungen in finnische Wälder fliehen. Mit einer russischen Dampflok kehrte er dann in der Rolle eines Heizers auf die Bühne zurück und avancierte im Oktober 1917 mit „Staat und Revolution“ zum erfolgreichen Dramatiker. Lenin, bekannt für außergewöhnliche Taktiken, begeisterte sein Publikum insbesondere mit Ironie.
Sinn für Subtiles haben auch die Schweizer: Zum 90-Jahres-Jubiläum und rechtzeitig vor dem anstehenden G-8-Gipfel erinnert uns der eidgenössische Bahnreiseveranstalter Railtour an die revolutionären Zusammenhänge von Gleisen, Geschichte und Gegenwart. Auf dem Titel seines seit 1. April 2007 (sic!) gültigen Deutschlandkatalogs strahlt uns ein neuzeitlicher Bahnrevoluzzer lächelnd entgegen. An der Ostseeküste zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn hat er jene Dampflok zum Stehen gebracht, die zum G-8-Gipfel den weltweiten Medientross transportieren soll und den verdächtigen Namen „Molli“ trägt. Bewaffnet ist der Titelheld mit Pistole, herziger Augenklappe und zwei Flaschen, deren Inhalt nicht identifizierbar ist. Wir wissen jedoch: Der ehemalige sowjetische Außenminister Molotow ist Namensgeber für einen zündenden Cocktail, der gern von Aufständischen benutzt wird.
Das Foto vermittle „Stimmung“ und „Ungewohntes“ aus einem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, erklärt uns Bernhard Imhof von Railtour. Der Veranstalter will dieses Jahr mindestens 30.000 Schweizer nach Deutschland bringen. Der Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern hat eine ganzseitige Anzeige im Railtour-Katalog geschaltet. Und die Schweriner Landesregierung erklärte bereits, dass auch Gegner des G-8-Gipfels in MV herzlich willkommen seien, sofern sie friedlich blieben. Da jedoch scheint im Hinblick auf die Eidgenossen Skepsis angebracht. Schließlich exportiert die Schweiz nicht nur militärische Präzisionstechnologie in alle Welt. Auch in Helvetien selbst gibt es eine sehr hohe Pistolenpräsenz: Jeder Angehörige der Alpenland-Armee hat eine persönliche Waffe inklusive Munition im Haus.
Vielleicht aber droht auch Gefahr von anderer Seite. Immerhin reist Uljanows Nachfolger und Vornamensvetter Wladimir P. (Putin), geboren in Leningrad, auf Einladung seiner G-8-Gefährtin Angela M. (Merkel) zum Gipfel ins älteste deutsche Seebad Heiligendamm. Informierte uns nicht einst der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, dass ein ehemaliger KGB-Offizier namens Wladimir P. im Jahr 1990 in Deutschland einen Spionagering mit Ex-MfS-Mitarbeitern aufbauen wollte? Dies soll wegen eines verräterischen Überläufers misslungen sein. Wer aber steckte jüngst hinter der Verkaufsofferte für eine weiße Villa am Heiligen Damm an den neuen Zaren aus St. Petersburg? Und warum ließ jener Wladimir P., verheiratet mit einer Deutschlehrerin und zugleich bekennender Orthodoxer, seine Töchter an der deutschen Schule in Moskau unterrichten?
Mögen unsere bürgerlichen Demokraten von Schwerin bis Berlin die Brisanz noch verkennen, so zeigen wenigstens die Kulturschaffenden des Mecklenburgischen Staatstheaters Gespür für die herannahende Zeit – wie damals am 10. Oktober 1989, als sie auf der Berliner Volksbühne mit einer Inszenierung des Schweizer Nationalhelden „Wilhelm Tell“ recht offen zur Revolution aufriefen. Der Überlieferung zufolge verließen die staatlichen Ehrengäste seinerzeit türenschlagend den Theatersaal. In dem Schauspiel legt der deutsche Nationaldichter Friedrich Schiller seinem Protagonisten Werner Stauffacher auf dem Schwurberg Rütli das Recht auf notfalls auch gewaltsamen Widerstand in den Mund: „Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“ Und Figur Walther Fürst proklamiert: „Was sein muss, das geschehe. Die Vögte wollen wir mit ihren Knechten verjagen und die festen Schlösser brechen.“
Wir fragen: Hat die aktuelle Hauptdarstellerin am Schlosshofe zu Schwerin – Königin Sylvia B. (Bretschneider) in der Vierfachrolle als Schlossfrau, Parlamentspräsidentin, Oberpolitiklehrerin und Landestourismuschefin – diese tollkühnen Töne im Tell-Stück bedacht, als sie die Werbeschaltung im helvetischen Deutschlandkatalog absegnete? Jedenfalls ist am Schweriner Staatstheater vis-à-vis des Märchenschlosses (und Landtagssitzes!) just am Tag des vorgesehenen Endes des G-8-Gipfels eine „Festwoche“ angesetzt. Wir wissen nicht, welche Ehrengäste diesmal geladen sind, aber wohl, was ab 8. Juni 2007 auf dem Spielplan steht: die russischen Komponisten Mussorskij und Prokofjew. Staatsintendant Kümmritz höchstselbst will auftreten. Als Sprecher in dem Stück „Peter und der Wolf“, das von revolutionären Kritikern schon immer als Parabel über die junge Sowjetunion und den gierigen kapitalistischen Westen interpretiert worden ist.
Doch diesmal mögen sich die hiesigen Künstler zu früh auf eine neue Revolution gefreut haben. Denn das Königreich Großbritannien wird sich nie und nimmer geschlagen geben. Jedenfalls steht im Railtour-Katalog auf Seite 16 schon ein schnittiger Sportwagen mit ausländischem Tarnkennzeichen am Strand bereit, damit James Bond im Dienste Ihrer Majestät mit allen gebotenen Mitteln zu Hilfe eilen kann. Vielleicht kann er auch Auskunft darüber geben, wofür die Kabelleitungen gedacht sind, die derzeit unter großer Geheimhaltung entlang den Schienen zwischen Bad Doberan und Heiligendamm verlegt werden. Sollen sie 007 während des G-8-Gipfels zur Sicherstellung der Kommunikation mit dem britischen Königshaus dienen? Sind sie für eine „Molli“-Sprengung im Stil des amerikanischen Weste(r)ns gedacht? Oder soll gar vor den Ostsee-Gestaden ein Panzerkreuzer rechtzeitig geortet werden, damit nicht wie einst im Oktober 1917 mit einem Schuss von Seeseite die Revolution ihren Lauf nimmt?
Wie immer die Geschichte weiter verlaufen wird: Die schienenfreundlichen Schweizer fahren in jedem Fall fröhlich auf sicherem Gleis. Gibt es keinen Aufstand, können sich die stets superneutralen Alpenländler nach angenehmer Railtour-Anreise wie gewohnt an den Sandstränden der Ostsee sonnen – und über weiterhin gute Geschäfte mit West und Ost freuen. Kommt es doch zur Revolution, waren sie wie einst bei Lenin wieder wichtige Wegbereiter. Grüezi! Oder besser: alle Macht den Rädern!
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