Den Kosmos auf den Kopf stellen

KÜNSTLERISCHE ALCHEMIE Der Neuköllner Kunstprojektraum Hungriger Geist nimmt sich Halloween zum Anlass, in einer dreitägigen Eröffnungsveranstaltung nach anderen Welten und Seinszuständen zu forschen. Und zu feiern

Zur Eröffnung des „HG“ wird gefeiert: Visuelle Kunst, Filme, Sound Art und Kulinarisches drehen sich um Bewusstseinserweiterung und Seelenwanderungen. Am Freitag Gif-Produktionen mit Ann Durham zum Mitmachen und Kurzfilm „Hands of Hair“ von Matt Wand, der ab 22 Uhr als DJ „La Grande Bouffe“ auflegt. Samstag u. a. Superfood-Buffet und Performance, Hörspiel von Franscesco Cavaliere; Sound Art und DJ Sets von Elephant House, Sculpture, Dr. Filtig + Tony Mines, und Zebaleen aka DJ Missaw. Abschluss am Sonntag mit „Sunday Roast“ (Sonntagsbraten).

■  Tag der Toten: Hungriger Geist, Pannierstr 40, 31. 10. – 2. 11., Fr ab 19 Uhr, Sa + So ab 17 Uhr

VON NOEMI MOLITOR

Halloween ist nicht nur Zombies, Blut und Gemetzel. Auch der kommerzialisierten Spuk- und Splatter-Version des Gedenktags an die Verstorbenen, die in den letzten Jahren aus den USA re-importiert wurde, liegt im Prinzip die Frage zugrunde, wie Menschen mit Vergänglichkeit und Tod umgehen. Ist am Lebensende alles aus oder noch schlimmer: wartet nach dem Sterben ewige Verdammnis? Gibt es ein „Leben danach“, andere Welten und Seinszustände?

Verschiedene Bräuche und Traditionen rund um den ersten November begegnen dem Tod unterschiedlich: Irische Kürbislaternen erzählen davon, wie es Jack’o’Latern gelingt, den Teufel auszutricksen, nur um dann in alle Ewigkeit als unsterbliche Seele umherzuirren. Auch katholische Feiertage wie Allerseelen gedenken der Toten: Fürbitten und Gebete bemitleiden die armen Seelen im Fegefeuer. Ein eher düsteres Unterfangen. Der mexikanische „Tag der Toten“ hingegen integriert den Verlust der Lieben. Zu ihrer temporären Rückkehr werden bunte Blumen vom Friedhof als Wegweiser zum Haus der Verwandten gestreut, alte Lieblingsgerichte gekocht und gefeiert. Je nach Umgangsform wird zu Halloween also entweder die Angst vor der Unterwelt geschürt und alle kommen in die Horror-Hölle. Oder aber das Sterben öffnet Wege zu anderen Daseinsformen und Welten, die den Lebenden manchmal kurze Einblicke gewähren.

Ganz im Sinne des Auf-(oder Ab-)Steigens in andere Sphären, eröffnet dieses Wochenende der Kunstprojektraum „Hungriger Geist“ in Neukölln, zunächst mit seinem Café. Für die Leiterin Leslie Claire ist Kunst nämlich der Schlüssel, um auch ohne Drogen bewusstseinserweiternde Grenzerfahrungen zu machen.

Dass das Projekt zu Halloween startet, ist kein Zufall: „HG“, das chemische Zeichen für Quecksilber (Lat. Hydragyrum), bildet ein zentrales Element in der Alchemie und ist im Englischen als „Mercury“ dem Gott Merkur zugeordnet, der die Seelen in die Unterwelt geleitet. Auf die Kunst übertragen, geht es also um Übergänge und Verwandlung.

Claire baut zurzeit in Berlin ein Schwester-Projekt zu ihren Apiary Studios in London auf – mit einem Fokus auf kollektive Prozesse der Kunstproduktion und offenen Arbeitsformaten, die in Zukunft auch über ein Austauschprogramm passieren sollen. Claire, ausgebildete Dramaturgin, findet die meiste Kunst heute zu „verkopft“ und sucht in Mythologie und Alchemie nach ihren Ursprüngen als Selbstheilungsritual. Damit es die Leute in Trance versetzen kann, müsse Kunstmachen „körperlich“ sein.

Der Ethnograf und Filmemacher Pedro Antunes entwickelte zum Beispiel die Performance „Stoned“, die am Samstag gezeigt wird, als Antwort auf seinen Dokumentationsfilm über ein portugiesisches Ritual zur Seelenbeschwörung, das den Weg in den Himmel ermöglichen soll. Seine Steine, Referenz auf Grabsteine oder Kirchenfundamente, werden aber auch zur Waffe. Für Künstler wie Publikum soll das Werk am ganzen Leib spürbar werden. Zur Auftaktveranstaltung experimentieren weitere Künstler_innen und Köche aus London und Berlin mit Sinnes-Stimulanzen, die ein somatisches Verschmelzen ermöglichen sollen.

Es geht aber nicht um esoterische Purifizierung, versichert Clara Ouchène, die als Kulturmanagerin unter dem Label Silverseeds Kunst und Musikprojekte wie zum Beispiel die Elektro-Punk-Band Aniaetleprogrammeur vertritt und das „HG“ in Berlin managen wird. Auch Schmutz brauche seinen Platz, denn oft liegen Figuren des Ab- und Ausgestoßenen Erzählungen von Macht und feministische Geschichten zugrunde. So gilt auch der dem Halloween verwandte Karneval im Rheinland als der Tag, an dem alle gleich sind: zu „Weiberfastnacht“ schneiden Frauen ihren Chefs das Machtsymbol Krawatte ab. Per Maskerade werden Menschen zu fabelhaften Wesen und der Kosmos steht kopf.

Performer und Elektromusiker Can „Khan“ Oral fragte sich schon 2007 in der Berliner Volksbühne, was eigentlich passieren würde, wenn Prince sich in Berlins queerer Subkultur verwurzeln und seine Ethnizität und sexuelle Orientierung entsprechend transformieren würde. Am Samstag tritt Can als „Carlotta“ auf, um die Grenzen zwischen Engelhaftigkeit und Wahnsinn auszutesten, dener er seit einiger Zeit in den Selbstpräsentationspraxen auf schwulen Onlineportalen nachgeht.

Der Tod könnte letztendlich die ultimative Form der Bewusstseinserweiterung sein

Auch die Gäste sollten zur Eröffnung kostümiert erscheinen, um ihre inneren Geister besser kanalisieren zu können. Vor Ort können auch Masken gebastelt werden. Für Freitag haben der Internetkünstler Ann Durham und Dj Shucht außerdem eine Blackbox samt Props vorbereitet, um mit den Gästen Gifs zu produzieren, die zur Party an die Wand geworfen werden.

Mit der visuell-akustisch arbeitenden Band Sculpture vom Londoner Label Software sollte es schließlich völlig psychodelisch werden. Während des Konzerts werden die Plattenspieler live abgefilmt, visuell verzerrt und als Animationsschleifen zu schwindelerregenden Endlosspiralen auf die Musiker projiiziert. In einem „Muertoke!“ lassen Dr. Filtig und Tony Mines das Publikum ihre eigenen Karaoke-Songs zum Thema Tod zusammenstellen: Lyrics, Back-ups und Musikvideos können individuell ausgewählt werden.

Für ihren „Salon der Alchemisten“ lädt Ouchène üblicherweise Performer, Tänzer und visuelle Künstler zu einem bestimmten Thema ein, überlässt die Programmentwicklung aber ganz furchtlos den Beteiligten. Diese Arbeitsmethode wird zum offenen Format des HG passen.

Und: „Der Tod,“ mutmaßt Claire, „könnte letztendlich die ultimative Form der Bewusstseinserweiterung sein“. Metaphorisch gesprochen. Die HG-Eröffnung lädt jedenfalls dazu ein, ihn zu feiern statt zu fürchten.