Falsches Verständnis
: KOMMENTAR VON DANIEL BAX

In vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas ist das Familienrecht von traditionellen Moralvorstellungen und religiösen Normen geprägt, die Frauen schlechter stellen. Es gibt islamische Autoritäten und fundamentalistische Imame, die Schläge für die Ehefrau sogar mit einer Sure aus dem Koran legitimieren. Der Streit über diese Auslegung und, grundsätzlich, die Gleichberechtigung der Geschlechter wird in diesen Ländern aber nicht erst seit gestern geführt. Er entzweit nicht nur säkulare Reformer und fundamentalistische Muslime, sondern zum Beispiel auch orthodoxe Mullahs und „islamische Feministinnen“, die ihre Religion von innen modernisieren wollen.

Diese Auseinandersetzungen sollten in einem deutschen Gericht aber keine Rolle spielen. Der Fall einer hessischen Familienrichterin, die es unter Berufung auf den Koran ablehnte, den Scheidungsantrag einer marokkanischen Frau als Härtefall zu behandeln, ist deshalb an Absurdität kaum zu überbieten. Die Marokkanerin wollte noch vor dem Ablauf des gesetzlichen „Trennungsjahrs“ von ihrem Mann geschieden werden, weil dieser ihr Gewalt angedroht hatte: mit gutem Grund, denn sie hat das gleiche Recht auf Schutz vor einem gewalttätigen Ehemann wie eine Deutsche. Alles andere wäre falsch verstandene Islam-Einfühlsamkeit zugunsten des Mannes – und eine geradezu rassistische Diskriminierung der Frau, die allein aufgrund ihrer Herkunft anderen Maßstäben unterworfen würde.

Es gibt auf dieser Welt viele überkommene Sitten und Bräuche, die nicht mit dem deutschen Grundgesetz in Einklang zu bringen sind. Witwenverbrennungen in Indien, Genitalverstümmelungen an kleinen Mädchen in Zentralafrika oder Ehrenmorde in tribal geprägten Gesellschaften gehören dazu. Sie alle werden in ihren jeweiligen Gesellschaften bekämpft. Es wäre deshalb ein schlechter Witz, wenn sie aus falsch verstandener Liberalität in Europa akzeptiert würden.

Zum Glück gibt es wenig Anlass zu dieser Befürchtung. Die hessische Familienrichterin wurde prompt von dem Fall abgezogen. Und die einhellige Empörung über ihr Verhalten sendet ein deutliches Signal: Das Grundgesetz gilt für alle.