semlers wortkunde
: Was bedeutet eigentlich „autonom“?

Autonomie, ein altehrwürdiger philosophischer Begriff, bezeichnet den selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Handlungsraum freier Menschen. 200 Jahre gingen ins Land, bis aus der Autonomie die Autonomen entsprangen. Geburtshelfer dieser neuen Spezies war die italienische Arbeiter-Autonomie. Gegen das starre Organisations- und Forderungsschema der alten linken Organisationen setzten sie in den 70er-Jahren spektakuläre, subversive Aktionen im Betrieb sowie Formen „unmittelbarer Aneignung“ wie Kollektiv-Diebstahl und Hausbesetzungen.

Wie es sich für Deutschland gehört, hatte diese Übernahme italienischer Praxis hier einen intellektuellen Vorlauf: die sozialrevolutionären Idealen verpflichtete, anspruchsvolle Zeitschrift Autonomie. Aber erst nach dem Ableben dieses Blattes, schlug die Geburtsstunde der sich selbst „Autonome“ nennenden Gruppen. Mit schwarzem Outfit tauchten sie zuerst in der Anti-AKW-Bewegung, wenig später bei den Hausbesetzern und – anlässlich des Besuchs von Präsident Reagan in Westberlin – in der Friedensbewegung auf.

Mit dem Niedergang und der Auflösung vieler linksdogmatischer Parteien, Gruppen und Bünde zu Anfang der 80er-Jahre hätte eigentlich die Stunde der Autonomen im radikal linken Milieu schlagen können, dies umso mehr, als ihre Militanz zwar von der großen Mehrheit der Linken abgelehnt, sie selbst aber lange als Bestandteil dieser Linken akzeptiert wurden. Es gelang den Autonomen aber zu keinem Zeitpunkt, aus ihren antikapitalistischen, antipatriarchalen und antirassistischen Orientierungen eine kohärente Strategie zu entwickeln. Nach dem Zerfall revolutionärer Ziele blieb nur die militante Pose.

Die Autonomen treffen jetzt innerhalb der Linken auf eine grundlegend veränderte politische Kultur. Zu dieser neuen Kultur gehören Gewaltfreiheit ebenso wie die Bereitschaft zum Dialog und zur Überzeugungsarbeit auch im Lager des politischen Gegners. Vor diesem Hintergrund trifft die Gewalttätigkeit, aber mehr noch die Stummheit der autonomen Gruppen auf Verständnislosigkeit und Ablehnung innerhalb der Linken.

CHRISTIAN SEMLER