Die Sicht der Anderen (1): Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland
: Demokratie und G‘tt sind zwei Seiten derselben Medaille

Charlotte Knobloch (74) ist seit 2006 Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland. Bereits seit 1985 ist sie Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. FOTO: AP

„lebendig, kräftig und schärfer“ lautet das Motto des Evangelischen Kirchentages. Denn so wollen die Lutheraner sein. Im Bekenntnis zur Würde des Menschen. Auf der Suche nach Orientierung in einer globalisierten Welt. Und im Ringen um Sinn im glaubensarmen Kosmos der Moderne.

Wird ihnen das gelingen?

Der Mensch der Moderne kontrolliert und gestaltet lebenserhaltende Vorgänge. Er klont, verändert Gene und überwindet den Atlantik in acht Stunden. Der Mensch der Moderne hat sich vom deterministischen Glauben an geheimnisvolle, unberechenbare Mächte emanzipiert und ist überzeugt, den Lauf der Welt durch Kalkulation beherrschen zu können. Er hat Religion privatisiert und in die ihr zustehenden Bereiche verwiesen – fernab von Politik und Wirtschaft. Der Mensch der Moderne hat sich mit individuellen Rechten ausgestattet und schützt seine Würde durch demokratische Gesellschaftsordnungen. Nicht mehr der Fürst, der seine Herrschaft mit G‘ttes Willen legitimiert, ist sein Souverän, sondern der freie Mensch selbst. G‘tt scheint folglich ausgedient zu haben. Zugegeben also – die Lutheraner haben sich viel vorgenommen.

Und dennoch: Wer meint, das Aufklärungsprojekt kann ohne G‘tt gelingen, der täuscht sich gründlich. Haben nicht Nationalsozialismus und Stalinismus bewiesen, dass gerade g‘ttlose Systeme die Werte der Aufklärung verletzt haben? Und ist es nicht so, dass Rechtsextremisten und andere Hassprediger gerade das Sinnvakuum zu instrumentalisieren wissen? Denn das Leben in einer entzauberten, hochgradig rationalisierten Welt löst bei vielen Unbehagen aus. Die Freiheit, in einer globalisierten Gesellschaft zwischen verschiedenen Lebensentwürfen wählen zu können, wird nicht immer als Segen empfunden. Seines sozialen Kontexts enthoben und von sich selbst entfremdet, zappelt der Mensch orientierungslos in der Bedeutungslosigkeit.

Dies ist der Nährboden, auf dem die Ideologie der Neonazis besonders gut gedeiht. Denn mit sozialen Wahlkampfthemen und einfachen Heilsversprechungen locken sie gerade die jungen Menschen in die wärmende Umarmung ihrer exklusiven Gemeinschaft. Wer nicht Mitglied im Club ist – Juden, Ausländer, Andersdenkende – muss erleben, dass seine Würde angetastet wird.

Wenn also die Evangelische Kirche zeigt, dass sich die Würde des Menschen nicht von der Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Herrenrasse ableitet, sondern von seiner Ebenbildlichkeit mit G‘tt, leistet sie damit einen unerlässlichen Beitrag zum Schutz unserer Grundrechte. Und wenn es ihr gelingt, diese Idee in einen globalen Diskurs einzubringen, kann sie den Menschen weltweit zum Orientierungsmuster machen. Denn in einer komplex gewordenen Gesellschaft liefert sie Antworten auf elementare Fragen menschlichen Seins. Indem sie auf die Weisheit der Thora – das Prinzip der Demokratie – verweist.

Auf regionaler Ebene ist das der Evangelischen Kirche bereits gelungen: Das „Bayerische Bündnis für Toleranz“ arbeitet seit zwei Jahren erfolgreich für Demokratie und gegen Extremismus. Auch hier zeigen die Lutheraner, dass christliche Ethik humane Verantwortung und gelebte Solidarität bedeutet. Denn ohne den Impuls der evangelischen sowie katholischen Kirche wäre dieses Bündnis nicht zustande gekommen.

Das Engagement der Evangelischen Kirche um den G‘ttesbezug in der Europäischen Verfassung muss ebenso erfolgreich sein. Denn Demokratie und G‘tt sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer das erkennt, wird immer bereit sein, „nein“ zu sagen, wenn Freiheit und Gleichheit gefährdet sind. Lebendig, kräftig und schärfer. Charlotte Knobloch

Anmerkung der Redaktion: Im Judentum wird aus Respekt vor Gott sein Name nicht ausgesprochen. Im Hebräischen sagt man nur „Hashem“ – „Der Name“. Im Deutschen wird das „o“ durch einen Apostroph ersetzt und der Name unausprechbar.