Mächtig, alt und einsam

Bei Giuseppe Verdi ziehen meist mächtige Väter die Fäden, Frauen büßen für ihre Verfehlungen. Das ist auch im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier bei „Simon Boccanegra“ nicht anders

VON REGINE MÜLLER

Ästhetische Abstraktion auf der Bühne ist sinnvoll, um zugunsten der Konzentration Plunder der Rezeptionsgeschichte oder folkloristisch Tümelndes aus dem Weg zu räumen. Es gibt aber mittlerweile auf den Bühnen eine Version der Abstraktion, die seltsam mutlos, entschärft wirkt und deren Kargheit sich gemildert gibt. Ein Art Mode der kleinen Lösungen im Dienste scheinbar zeitloser Aktualität.

Diese halbherzige Askese mag in Einzelfällen auch den allgegenwärtigen Sparzwängen geschuldet sein, sie scheint aber auch eine hervorragende Tarnung für konzeptionelle Unentschiedenheit, ja Beliebigkeit zu sein, denn immer wird so die Bühne ganz bequem frei fürs erwünschte Kammerspiel ohne weiteren Bezug zur Welt.

Dergestalt auf der sicheren Seite bleibend geht Regisseurin Gabriele Rech in Gelsenkirchen Giuseppe Verdis Frühwerk „Simon Boccanegra“ an und versperrt sich damit den Weg zum zentralen Konflikt. Denn bei Verdi ist das Zwischenmenschliche nie im luftleeren Raum der reinen Psychologie angesiedelt, es ist immer eingebettet in gesellschaftlich brisantes Umfeld.

In Gelsenkirchen hat man sich sogar bewusst für die schärfere erste Fassung des Werks entschieden, die Verdi mehr als zwanzig Jahre später altersweise in milderndes Abendrot einhüllte, und zwar großartige Musik hinzukomponierte, aber Geschlossenheit und Dramatik der Urfassung opferte. Wie so oft bei Verdi ziehen mächtige und einsame alte Väter die Fäden, während die Frauen vor angeblichen Mesalliancen bewahrt werden oder für sie büßen müssen.

Simon Boccanegra, ein Mann aus einfachen Verhältnissen wird im 14. Jahrhundert Doge von Genua. Sein Gegenspieler Fiesco hasst ihn trotz seines gesellschaftlichen Aufstiegs, weil er seine Tochter entehrt haben soll. Der Krieg der Kontrahenten und Väter überdauert eine Generation und endet nach diversen Intrigen und Verwicklungen in später Versöhnung kurz vor Boccanegras Gifttod.

Das von Anfang an fatal düstere Treiben illustriert Stefanie Pasterkamp zunächst mit unzähligen Metallschnüren, die wohl die Fernsteuerung der Figuren meinen sollen. Hubpodien fahren oftmals in Standbildern verharrende Figurentableaus auf und ab, Grablichter und weiße Lilien dekorieren als Insignien des Todes das erst dunkle, dann mediterran luftige Ambiente. Einzelne Bilder prägen sich indes ein: wenn etwa Boccanegra am Ende des Prologs zum Dogen gewählt wird, aber gleichzeitig entdeckt, dass seine geliebte Maria, die Tochter des Fiesco gestorben ist und noch im Korsarengewand auf dem Thron sitzend den Dogenmantel umgelegt bekommt. Ansonsten verliert die Regie sich jedoch vor allem im routinierten Bebildern einer irgendwie doch sehr vergangenen Geschichte.

Dabei steuert Samuel Bächli aus dem Graben einen durchaus entschlackten, agilen und nie pompös auftrumpfenden Verdi bei, der stellenweise lodernde Intensität erreicht. Höchst erfreulich auch das Niveau der Sänger: Jee-Hyun Kims sonorer und auch darstellerisch intensiver Titelheld, Günter Papendell als schurkischer „Paolo Albiani“, Nicolai Karnolskys erzern tönender Gegenspieler „Jacopo Fiesco“, Christopher Lincoln als lyrischer „Gabriele Adorno“ und Regine Hermann als Tochter „Amelia“. Der Chor kommt etwas wacklig in Schwung, zeigt sich dann aber gewohnt durchschlagskräftig. Fazit: Ein gekonnter, aber unverbindlicher Verdi-Abend.

19:30 Uhr, MiR, Großes Haus Infos: 0209-4097200