Allen wohl und niemand weh

Das Ereignis: Heute beginnt in Köln der 31. Evangelische Kirchentag. Motto diesmal: „Lebendig und kräftig und schärfer“. Es werden rund 100.000 Dauergäste erwartet – noch mehr als in Hannover vor zwei Jahren. Etwa 60 Prozent der Teilnehmer sind weiblich; der Altersdurchschnitt liegt bei 35 Jahren. Das protestantische Laientreffen wird 14 Millionen Euro kosten, die zu je einem Drittel durch Teilnehmerbeiträge, öffentliche Zuschüsse und die rheinische Landeskirche finanziert werden. Der Kirchentag endet am Sonntag. Die Events: 3.000 Veranstaltungen führt das 600 Seiten starke Programm auf. Es reicht von Gospelchurch und Raggae-Gebeten bis zu den klassischen Podien zu Themen wie Gerechtigkeit, internationale Sicherheit oder Globalisierung. Ein erster Höhepunkt ist heute der „Abend der Begegnung“, zu dem 400.000 Gläubige erwartet werden. Ausdrücklich wird diesmal das Gespräch mit anderen Konfessionen gesucht: So werden die Bibelarbeiten auch von Katholiken, Anglikanern, Methodisten, Muslimen oder Juden durchgeführt. Die Prominenz: Viel Politprominenz reist an – ob Bundespräsident Horst Köhler, Kanzlerin Angela Merkel oder der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu. Am Samstag wird die Kanzlerin mit Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus diskutieren. Auch er darf nicht fehlen: Fernsehpfarrer Jürgen Fliege.

Die Ausstattung: 200.000 Kerzen, 55.000 Papphocker und 80.000 Schals werden benötigt. 4.500 Helfer sorgen für Ordnung, 160 Schulen bieten 40.000 Schlafplätze an. UH

1. Evangelische Kirchentage sind die wichtigsten Foren der bundesdeutschen Zivilgesellschaft seit jeher.Sie – evangelische wie katholische – sind die großen Diskussionszirkel der Zivilgesellschaft seit Anfang der Fünfzigerjahre. Hier wurden stets die gesellschaftlichen Entwicklungen Deutschlands grundiert und unterfüttert. Ob es um das Verhältnis zu Israel, zur sogenannten Vergangenheitsbewältigung, um die Aussöhnung mit dem Osten Europas, Frauen- und Minderheitenfragen, die Friedens- und Ökobewegung oder die Schieflagen der Globalisierung ging – Kirchentage waren das Forum, in dem alle Anliegen für eine gute Republik sich dem Feuer der lagerübergreifenden Kritik aussetzen mussten. Sie waren ihrer Zeit mithin oft voraus.

2. Kirchentage verstetigen drängende gesellschaftliche Diskussionen.Das geht so: Erst bringen kleine christliche Gruppen ein scheinbares Randthema auf. Dann dauert es eine Weile, bis es den ganzen Kirchentag erfasst. Schließlich widmet man sich ihm mit einer protestantisch-verbissenen Hartnäckigkeit, die irgendwann auf die ganze Gesellschaft ausstrahlt. Schon immer war Armut, globale wie die im eigenen Lande, ein Thema von Kirchentagen. Die Koinzidenz mit dem G-8-Gipfel an der Ostsee und seinem Themenschwerpunkt Afrika ist zwar zeitlich ein Zufall, ist aber dennoch passend. Zeigt es doch erneut, dass ein Kirchenthema die Gesellschaft erreicht hat.

3. Kirchentage haben sich als Quellen des Aufbruchs quasi totgesiegt.Man scheint mit sich im Reinen zu sein, die Gesellschaft ist nach zwei Jahren großer Koalition und mitten im Wirtschaftsaufschwung ein bisschen so geworden, wie man sich das immer gewünscht hat. Dieser Konsens spiegelt sich darin, dass sich diesmal alle politischen Themen irgendwie gleichberechtigt nebeneinander finden. Die Podien sind viel zu ausgewogen besetzt – ob zu Hartz IV, Klimaschutz oder Mindestlohn, ob zu Familienfragen oder im Hinblick auf Gentechnik – jede Debatte, die auf Streit, nicht nur Ausgleich setzt, gilt als friedlos unangemessen.

4. Der Kirchentag begünstigt frömmelndes Einerlei – und nimmt Abstand von mutigem Engagement.Schon seit 1999, dem ersten Kirchentag unter Rot-Grün, wird spürbar, dass der Kirchentag, das Laienforum der Protestanten schlechthin, müde wird und sich in Feierlichkeiten flüchtet. Licht, Gebet und Gesang gelten als Ingredienzen einer neuen Innerlichkeit – heute Abend mit einem Kerzenmeer auf dem Rhein vor dem Kirchentagsgelände. Die Gläubigen sollen sich wohlfühlen und genießen – die Angebote reichen von Meditationen bis zum liturgischen Tanz. Nicht mehr als ungewöhnlich darf eine alte katholische Nonne auf einem evangelischen Kirchentag genommen werden, deren Angebot in einer Zen-Meditation besteht. Diese Gefühligkeit in der Aura dieser Tage ist allerdings unter Theologen nicht unumstritten, denn sie tendiert zum religiösen Allerlei: Eutonie, buddhistische Versenkung, ja, selbst vor Jahren noch verpönte Esoterik haben sich sanft in das Programm geschlichen. Von Gott ist dabei zwar viel die Rede, doch von Jesus und seiner radikalen Botschaft (sowie seinen Kirchen) weniger.

5. Der Kirchentag macht den Glauben zum unverbindlichen jesusfernen Credo.Den Kirchen gefällt dieses sanfte, doch hartnäckige Verschwinden von Jesus nicht unbedingt. Es geht Verbindlichkeit verloren, die Ausschließlichkeit des Glaubens leidet. Kein Wunder, dass der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber plötzlich die bibeltreuen Seiten seiner Kirche betont und so gern Paul Gerhardt singt. Kein Mirakel ebenso, dass Huber so oft mit den Muslimen in Konflikt gerät. Denn Christus als alleiniger Erlöser der Welt erschwert das Gespräch mit anderen Religionen, die auch sich selbst für die Größten halten. Auch bei den Mitchristen mit dem anderen Gebetbuch ist Ähnliches zu beobachten: Es ist kein Zufall, dass der Papst gerade jetzt ein Buch über das scheinbar schlichte Thema Jesus schreibt, um die Exklusivität seiner Konfession zu retten.

6. Dem Kirchentagsbesucher ist eignes Glück in der Gemeinschaft wichtiger als das Glück dieser Gemeinschaft.Ein Trend, der schon beim katholischen Weltjugendtag 2005 zu beobachten war. Die Kirche muss immer stärker auf dem Markt der Sinnanbieter bestehen – da mischt sich jedeR seinen eigenen Gott zusammen. Jesus und seine sperrige Botschaft werden unwichtiger, Gott wird unpersonaler wahrgenommen und zu einer nebulösen Kraft in der Natur wie in jedem Einzelnen abgewertet. Statt im persönlichen Gebet wird er durch Meditation, Versenkung oder ein Naturerlebnis gesucht.

7. Der Kirchentag versöhnt Gläubige mit dem postmodernen Kapitalismus.Die obskure Suche nach einer außerweltlichen Kraft passt zur Individualisierung und zu den Allmachtsfantasien eines und einer jeden, die der moderne Kapitalismus befördert. Der Wunsch nach Selbsterlösung hat in den Anforderungen, künftig selbst für Rente und soziale Sicherheit aufzukommen, seine Entsprechung. Martin Luther hätte das als glaubensfern empfunden, er glaubte an einen gnädigen Gott. Um ihm zu gefallen, musste der Mensch weder arbeitend noch meditierend seine eigenen Kräfte stärken.

8. Der Kirchentag macht glauben, die Nachfolgeschaft Jesu Christi, Religiosität überhaupt, seien nur mehr als Superlativ erfahrbar.Die Entwicklung zum Massenevent währt lange, und der Kölner Kirchentag eifert aufmerksamkeitsheischend dem Weltjugendtag nach – samt evangelischem Public Viewing. Glaube darf und soll auch Spaß machen, und eine geistige Verarmung muss die Aufheizung des Kirchentagsgeschehens an den Oberflächen nicht bedeuten. Wer jedoch braucht einen Zehn-Tonnen-Stahlaltar, diese penetrante öffentliche Inszenierung des Glaubens? Oder ist das bloß eine Art Mediterranisierung des nördlich-steifen Protestantismus, wird aus der Ohren- eine Augenreligion, um ein Wort des evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf aufzunehmen? Schleicht sich der Katholizismus ins evangelische Geschehen?

9. Der Kirchentag will allen wohl und niemand weh sein – weil er sich unter Konsensdruck setzt.Dazu passt die Medialisierung des Kirchentags: 1.400 Journalisten aus aller Welt berichten von ihm. Das große Medienaufgebot spricht für ein großes Interesse der Gesellschaft an dieser öffentlichen Zeitansage der Christen. Auch die Zivilgesellschaft insgesamt ist auf Sinnsuche und stellt wieder die großen Fragen. Insofern ist der Kirchentag die sanftere, weniger radikale Form von Heiligendamm – und so sind, um es biblisch zu sagen, viele Protestgruppen an der Ostseeküste Fleisch vom Fleisch der christlichen Basis. Wo wurden noch mal die Themen weltweite Solidarität, Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung erstmals diskutiert?

10. Auch wenn der Kirchentag die großen Fragen zu stellen glaubt – die eine Antwort zu geben, soll seine Botschaft nicht sein.Die Ausfächerung der Milieus auch im Protestantismus erlaubt nicht mehr, die eine weltliche Botschaft zu verkünden. In gewisser Weise ist der Kirchentag wie dieses Land: duldsamer, toleranter, internationaler und pluraler. Das ist jedoch nicht nur eine gute Nachricht. Allen wohl und niemand weh, ist das geheime Motto des Kirchentags geworden. Man stößt sich nicht mehr an ihm, die Ecken und Kanten sind abgeschliffen. Ist es das, was Luther wollte? JAN FEDDERSEN, PHILIPP GESSLER ULRIKE HERRMANN